Im Interview: Markus Krempl, Coordinator Virtual Commissioning, Sven Suklitsch, Lead Simulation, beide PIA Automation.
Wann hat PIA Automation zum ersten Mal das Instrument der virtuellen Inbetriebnahme eingesetzt?
Suklitsch
Wir beschäftigen uns seit 2016 mit diesem Thema und haben in dieser Zeit grundlegende Vorarbeiten in Form von Diplomarbeiten und Testprojekten geleistet. Auf Basis dieser Ergebnisse haben wir im September 2023 unser erstes Kundenprojekt umgesetzt.
Krempl
Diese erste Anwendung war das Pilotprojekt, seitdem bieten wir unseren Kunden in neuen Projekten die virtuelle Inbetriebnahme an.
Worum ging es im ersten Projekt?
Krempl
Das Thema war der Umbau einer Bestandsanlage. Wir hatten die Anlage gebaut, die Programmierung hatte der Kunde selbst vorgenommen. Allerdings erreichte die Anlage aufgrund geänderter Randbedingungen nicht den gewünschten Output.
Suklitsch
Deshalb kam der Kunde auf uns zu und suchte nach einer Lösung. Weil wir über die detaillierten Engineering-Daten der Anlage verfügen, haben wir die Probleme analysiert und vorgeschlagen, sie neu zu programmieren.
Krempl
So wie die Voraussetzungen waren, konnten wir dem Kunden anbieten, die veränderte Anlage zuerst als digitalen Zwilling zu modellieren. Das heißt, wir konnten die neue Programmierung virtuell testen, bevor wir an den physischen Umbau gegangen sind. Ohne vorherige Modellierung hätte der Umbau einer solchen Anlage etwa neun Wochen Stillstand verursacht. Durch die virtuelle Inbetriebnahme haben wir den Stillstand auf vier Wochen reduziert, unser Kunde hatte also eine Zeitersparnis von mehr als 50 Prozent.
Wie konstruiert man einen digitalen Zwilling?
Suklitsch
Wir beginnen eigentlich wie bei jeder Konstruktion. Oft mit einer Handskizze, die man in ein 3D-Modell überträgt und die Meilensteine für den Bau der Maschine durchläuft. Die Modellierung des digitalen Zwillings beginnt nach dem Design Freeze, also dem Zeitpunkt, nach welchem nur noch in zwingenden Fällen größere Änderungen möglich sind. Wenn das Design definiert ist, erstellen wir ein kinematisches Modell der Maschine, sozusagen ein intelligentes 3D-Modell. Es enthält alle beweglichen Teile und ihre Achsen, die Sensorik und den Materialfluss in der Produktion. Als zweiter Teil der Modellierung wird ein Verhaltensmodell für die einzelnen Feldgeräte programmiert.
Krempl
Das ist dann mein Part. Sven Suklitsch und ich arbeiten an einem digitalen Zwilling Hand in Hand. Wenn sein Team das kinematische Modell programmiert hat, beginnt unsere Arbeit am Verhaltensmodell. Es beschreibt, was die Maschine konkret tut. Das wird über die Steuerung definiert. Wir programmieren also Verhaltensmodelle, die sich genau so verhalten wie später die reale Maschine oder wie Bauteile, die in der Maschine hergestellt werden. Das alles ebenfalls in einer 3D-Modellierung.
Wie abstrakt oder konkret sind die Visualisierungen dieser Modelle?
Krempl
Grundsätzlich gehen unsere Darstellungsmöglichkeiten sehr tief ins Detail. Die Modelle bilden beispielsweise jeden Sensor und jeden Aktor ab. Dort, wo dieser Detaillierungsgrad nicht gebraucht wird, etwa bei Transferstrecken, können die Modelle abstrakter gehalten werden, um Datenkapazitäten zu sparen. Da genügt dann auch eine 2D-Darstellung.
In welcher Phase der Anlagenentwicklung beginnen Sie damit, die virtuelle Inbetriebnahme vorzubereiten?
Suklitsch
Das Engineering, also die Planung des mechanischen und elektrischen Teils einer Anlage, verläuft noch identisch zum klassischen Maschinenbau. Anschließend beginnen wir zeitlich parallel zur Beschaffungsphase mit der Modellierung. Die Beschaffung dauert in unserer Branche durchschnittlich acht Wochen, kann sich aber bis zu 30 Wochen für Langläufer erstrecken. Diese Zeit nutzen wir, um die Anlage zu modellieren, die Software am digitalen Zwilling zu entwickeln und Abläufe zu emulieren – bis wir am Ende zur virtuellen Inbetriebnahme kommen. In der Zeitspanne vom Beschaffungsbeginn bis zur ersten Montage bei uns im Haus erreichen wir bereits eine sehr hohe Softwarequalität. Wir haben die Anlage virtuell schon bis ins Detail getestet, bevor wir sie sie bei unserem Kunden montieren. Beim Ramp-up und der Abnahme beim Kunden können wir uns gemeinsam mit dem Kunden dann ganz auf prozesstechnische Fragen konzentrieren.
Wenn wir über Digitalisierung sprechen, stehen Ziele wie Effizienzsteigerung und höhere Qualität im Fokus, aber auch Potenziale zur Kostensenkung. Lassen sich die Kostenvorteile für Ihre Kunden beziffern?
Suklitsch
Das ist die Frage aller Fragen, die uns häufig gestellt wird. Eine pauschale Antwort gibt es allerdings nicht – aber viele Beispiele, wo Kosten vermieden werden. Der schnellere Projektdurchlauf spart nicht nur Zeit, sondern auch Kosten. Die hohe Softwarequalität in einem frühen Entwicklungsstadium und die hochdetaillierte Modellierung vermeiden Fehler, deren Korrektur in einem späteren Stadium deutlich teurer wird. Im Idealfall können wir notwendige Änderungen noch in der Beschaffungsphase vornehmen und Fehlinvestitionen vermeiden.
Krempl
Aus meiner Erfahrung bei der Aufstellung und Betreuung von Kundenanlagen vor Ort möchte ich einen wichtigen Punkt ergänzen: Virtuelle Inbetriebnahme bietet unseren Kunden die Chance, ihre Anlage viel früher kennenzulernen. Wir unterhalten uns mit Instandhaltern und Anlagenbetreibern über Bedien- oder Chargenkonzepte, noch bevor es die physische Anlage gibt. Ohne das digitale Modell kommen solche Fragen oft erst bei der realen Inbetriebnahme auf. Wenn unsere Teams Lösungen erst vor Ort entwickeln, ist das für unsere Kunden viel teurer, weil beispielsweise Hotelkosten und andere Aufwände anfallen. Und nicht zu vergessen: Mit dem virtuellen Testen unserer Anlagen sparen Kunden viele Prototypenbauteile, die man ansonsten bei Tests in der realen Anlage herstellen müsste
Was macht es für Kunden besonders attraktiv, gemeinsam mit PIA Automation eine Anlage mit virtueller Inbetriebnahme zu entwickeln?
Krempl
Wir bieten eine sehr große Detaillierungstiefe. Unsere Simulationen sind 1:1 auf die reale Anlage übertragbar. Wir nehmen den Materialfluss und alle daran gekoppelten Systeme im virtuellen Modell in Betrieb und können auch vorhandene Leitsysteme unserer Kunden in unser Programm integrieren.
Suklitsch
Beispielsweise entsprechen unsere Emulationen der SPS und der Robotercontroller bis in jedes Detail den realen Programmen und können direkt für die Anlage übernommen werden. Außerdem sind wir nicht auf bestimmte Tools festgelegt. Wir können praktisch jede vorhandene Software unserer Kunden in die Modellierung einbinden. Nicht zuletzt bekommen Kunden bei uns alles aus einer Hand: Anlagendesign, Programmierung und virtuelle Inbetriebnahme.
Wollen Sie die Virtuelle Inbetriebnahme bei neuen Kundenprojekten als Standard setzen?
Krempl
Wir werden unseren Kunden dieses Instrument künftig flächendeckend anbieten. Es ist für alle Beteiligten von Vorteil: Wir können mit der Virtualisierung unsere Qualität steigern, unsere Kunden haben Zeit- und Kostenvorteile. Probleme im Anlagenkonzept lassen sich frühzeitig erkennen und beheben, lange bevor in der realen Umsetzung Fehlinvestitionen getätigt werden oder teure Korrekturen notwendig werden.
Suklitsch
Ich möchte gern noch zwei Aspekte ergänzen, eher weichere Faktoren: Damit, dass wir Anlagen und die von ihnen produzierten Bauteile in der virtuellen Welt testen, leistet die virtuelle Inbetriebnahme auch einen Nachhaltigkeitsbeitrag. Weniger reale Prototypenteile bedeuten einen geringeren CO2-Fußabdruck für unsere Kunden und für uns. Dass unsere Teams am Ende eines Projekts weniger Zeit vor Ort bei der realen Inbetriebnahme einer Kundenanlage verbringen, ist nicht allein ein Kostenfaktor. Weniger unterwegs zu sein, bedeutet für unsere Mitarbeiter, mehr Zeit mit ihren Familien verbringen zu können. Das macht letztlich auch den Arbeitgeber PIA Automation attraktiver.