Was heute Schlagzeilen im Politikteil der Zeitungen macht, kann morgen das Geschäft beeinflussen. Für kaum eine Branche gilt das derzeit so sehr wie für die deutsche Bauchemie. Die Euroangst und die Krise in Südeuropa, niedrige Bauzinsen, Wohnraummangel sowie Umwelt- und Klimaschutz sind die langfristigen Trends, die das Geschäft prägen. Während die Baukonjunktur in ehemals boomenden Ländern wie Spanien völlig eingebrochen ist, floriert sie in Deutschland. „Die Stimmung in der Branche ist durchweg gut bis sehr gut“, sagt Norbert Schröter, Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands Deutsche Bauchemie. „Viele flüchten in das sogenannte Betongold, ausländisches Kapital wendet sich dem deutschen Immobilienmarkt zu, und auch junge Familien beschäftigen sich verstärkt mit dem Thema“, so Schröter. Davon profitieren besonders die in der Bauchemie tätigen deutschen Hersteller, die mit rund 7,6Mrd. Euro Jahresumsatz rund die Hälfte des europäischen Marktvolumens und etwa ein Viertel des Weltmarkts erwirtschaften. Im ersten Halbjahr 2012 konnten die Umsätze der Branche gegenüber dem bereits starken Vorjahreszeitraum noch einmal leicht zulegen. Da Produkte für den Innenausbau wie etwa Fliesenkleber erst ein halbes Jahr nach Baubeginn zum Einsatz kommen, ist Schröter auch für den Rest des Jahres zuversichtlich. Dass es durch den Einbruch der Bautätigkeit in den Krisenstaaten nicht zu einem den Markt belastenden Überangebot kam, führt er darauf zurück, dass viele Produktionsstätten geschlossen wurden. Es sei auch nicht zu erwarten, dass sie wieder in Betrieb gehen: „Geschlossen wurden ältere Anlagen, in die man investieren müsste, wenn man sie wieder einsetzen will. Solche Investitionen werden im Moment aber nicht gemacht.“
Renovieren lohnt sich für Staat, Verbraucher und Umwelt
Günstig für die langfristige Stabilität des Sektors wirkt sich aus, dass Bauchemie nicht nur dann zum Einsatz kommt, wenn gebaut wird. Der gegenüber dem Neubau weniger zyklische Geschäftsbereich des Bauwerkerhalts gewann in den letzten Jahren an Bedeutung und macht inzwischen 60Prozent des Geschäfts aus. „In Europa und Nordamerika sieht man eine Zunahme an Renovierungsprojekten“, sagt Christine Kukan, Investment-Relation-Managerin des Schweizer Sika-Konzerns, der mit weltweit 15.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von umgerechnet knapp 4Mrd. Euro einer der Riesen in einer von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägten Branche ist. „Einerseits ist das Renovieren meist günstiger als der Neubau - zum Beispiel bei Brücken. Andererseits geht es darum, die Energieeffizienz von Gebäuden zu erhöhen und so auch Kosten zu sparen, etwa durch eine bessere Isolation von Dächern, Fassaden und Fenstern.“ Vom Gesetzgeber gemachte Vorgaben im Umweltbereich unterstützten diese Art von Renovierungen und den Absatz umweltfreundlicherer Produkte, so Kukan.
Umweltschutz wirkt als Investitions- und Innovationstreiber
Das heißt aber nicht, dass man die Firmen erst auf das Thema hätten stoßen müssen. „Gesundheit, Nachhaltigkeit und der Schutz des Verbrauchers, des Verarbeiters und der natürlichen Ressourcen hatten für uns immer oberste Priorität, wir mussten nicht erst von außen dazu gedrängt werden“, so Schröter. Darum seien deutsche Unternehmen heute führend auf diesem Gebiet, was von internationalen Investoren, denen Umweltzertifikate und Ressourcenschutz bei der Umsetzung ihrer Projekte wichtig sind, honoriert werde. Als Beispiel für Entwicklungen in diesem Bereich nennt Schröter Reaktionsharze, bei denen es anders als früher keine Innenraumbelastung mehr gebe. Auch Betonzusätze gehören dazu: „Der Kontakt mit Boden und Trinkwasser ist völlig unproblematisch.“ Innovationen in der Bauchemie dienen also Mensch und Umwelt. Sie tragen aber auch darüber hinaus auch zu höherer Beständigkeit des Bauobjekts bei - und somit zu einer besseren Wirtschaftlichkeit. Da im Bausektor die Materialkosten im Vergleich zu den Lohnkosten lediglich eine geringe Rolle spielten, bevorzugten die Kunden dauerhaftes Material, sagt Norbert Schröter vom Branchenverband Deutsche Bauchemie. „Die Handwerksbetriebe schauen heute ganz genau, wie schnell solche Produkte arbeiten und wie beständig sie sind. Dann entscheiden sie sich für die besten, nicht für die billigsten.“ Eine Schattenseite der globalen Trends ist aus Sicht Schröters, dass finanziell ausgetrocknete Staaten dazu neigen, die Infrastruktur zu vernachlässigen. „Wir haben sehr viele Brücken in Deutschland. Viele von ihnen sind sehr marode, da müsste dringend was gemacht werden.“ Wenn nicht rechtzeitig in den Erhalt einer Brücke investiert werde, müsse man sie am Ende abreißen. „Das wird eines Tages zu einer großen Belastung führen. Wir haben dem Bundesbauministerium schon mehrmals empfohlen, sich rechtzeitig um den Erhalt der Infrastrukturbauwerke zu kümmern, um zu verhindern, dass es so weit kommt.“ Als bauchemische Innovationen, die dabei helfen könnten, nennt er neue Abdichtungssysteme unter den Fahrbahnbelägen, leichtere Materialien und Zusatzmittel für Asphalte: „Früher mussten Asphalte bei hoher Temperatur eingebaut werden. Heute gibt es Niedrigtemperaturasphalt, der belastbarer ist und zudem gesünder für die Leute, die auf den Maschinen sitzen.“ Wie gut das funktioniere, sehe man an den Landebahnen des Frankfurter Flughafens. „Da werden nachts Stücke rausgenommen, der Asphalt wird eingebaut, und um fünf Uhr früh landen darauf die Flugzeuge.“ Laut einer Anfang Mai veröffentlichten Umfrage der Landesbausparkassen sieht die Mehrheit der Wohnungswirtschaftsexperten bis 2020 einen Neubaubedarf für Deutschland von 225.000 bis 300.000 Wohnungen pro Jahr. Solange die europäische Staatsschuldenkrise nicht zu einem jähen Absturz der Wirtschaft führt, dürfte es in Deutschland also weiterhin viel zu bauen und zu sanieren geben - und somit ein solides Umfeld für die Bauchemie.