Innenohr-Prothesen oder sogenannte Cochlea-Implantate (CI) werden seit vielen Jahren erfolgreich für die Wiederherstellung des Hörens bei Gehörverlust eingesetzt. Die begrenzte spektrale Auflösung bisheriger CIs macht aber Betroffenen das Verstehen von Sprache im Hintergrundgeräusch und das Hören von Musik nur schwer möglich.
Um diese Grenzen zu überwinden, forschen Wissenschaftler am Exzellenzcluster „Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC) der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) kontinuierlich an der Weiterentwicklung des CI.
Erste Erfolge bei Wüstenrennmäusen
Prof. Dr. Tobias Moser, Direktor des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften/InnenOhrLabor, UMG, und Sprecher des MBExC, und sein Team haben bereits Pionierarbeiten auf diesem Gebiet geleistet: Das Gehör von Wüstenrennmäusen konnten sie erfolgreich mit Licht wiederherstellen, nachdem sie die Nervenzellen des Spiralganglions genetisch verändert hatten.
Die optische Stimulierung der Cochlea verspricht einen deutlich verbesserten Höreindruck, da Lichtpulse sehr viel feiner zu steuern sind als elektrische Pulse, die beim klassischen CI eingesetzt werden. Die Gentherapie bedeutet allerdings ein höheres Risiko für Nutzer eines zukünftigen optischen CI.
Hier ist nun den Göttinger Forschern ein weiterer Durchbruch auf dem Weg zu einer neuen Generation von Cochlea-Implantaten in einer Kooperation mit Wissenschaftlern vom Institute for Bioengineering of Catalonia (IBEC), dem Institute for Advanced Chemistry of Catalonia (IQAC-CSIC) (beide Barcelona, Spanien), vom Network Biomedical Research Center in Bioengineering, Biomaterials, and Nanomedicine (CIBER-BBN) im spanischen Madrid und von der Universität Mailand in Italien unter der Leitung von Prof. Dr. Pau Gorostiza (IBEC und CIBER-BBN) gelungen: Mit Hilfe eines neu-entwickelten lichtgesteuerten pharmakologischen Wirkstoffs konnten die beiden Teams erstmals die Hörnervenzellen von ausgewachsenen Wüstenrennmäusen mittels Licht aktivieren, ohne dass zuvor eine genetische Manipulation vorgenommen werden musste.
Bei Lichtreiz aktiviert der Wirkstoff den Hörnerv und könnte durch die (gegenüber elektrischer Reizung) bessere räumliche Begrenzung von Licht die spektrale Auflösung von Cochlea-Implantaten verbessern.
Mehrere Wege zur Stimulation des Hörnervs für besseres Hören in komplexen Situationen
Der neue Ansatz baut auf der Expertise von Moser und seinem Team im Bereich der Optogenetik auf. Die Göttinger Hörforschung hat eine Technik entwickelt, die genetische Manipulationen nutzt, um Nervenzellen mit Licht zu steuern und ihre Aktivität mit einem lichtemittierenden Cochlea-Implantat zu verbinden.
„Wir haben einen alternativen Weg entwickelt, um Licht und die elektrische Aktivität in den Nervenzellen zu koppeln, der keine genetische Manipulation erfordert. Dazu setzen wir eine Substanz ein, die sich wie eine 'molekulare Prothese' chemisch an ein Rezeptorprotein in den Hörnervenzellen anlagert und diese aktiviert, wenn sie beleuchtet werden“, sagt Co-Erstautor Prof. Dr. Carlo Matera, der das Medikament synthetisiert hat. Die Tatsache, dass nun mehrere Wege zur Stimulation des Hörnervs zur Verfügung stehen, könnte das optische CI einem breiteren Kreis potenzieller Nutzer zugänglich machen.
Die von den Forschenden neu entwickelte Substanz wird durch eine einzige Wellenlänge blauen Lichts aktiviert. „Nachdem wir die Verbindung in vitro an Nervenzellen aus dem Hippocampus getestet und charakterisiert hatten, führten wir in vivo Experimente an Wüstenrennmäusen durch”, sagt Co-Erstautorin Dr. Aida Garrido Charles, Wissenschaftlerin am IBEC und der UMG. „Wir konnten nachweisen, dass unser mit Licht aktiviertes Medikament eine elektrophysiologische Reaktion in der Cochlea auslöst. Das ist das erste Mal, dass dies in einem Experiment auf pharmakologische Weise gelungen ist.“
Endlich Musik und Sprache richtig wahrnehmen
Die durch Licht aktivierte neuronale Steuerung überwindet einige der Nachteile des klassischen Cochlea-Implantats, das durch elektrische Stimulation betrieben wird. „Der Hauptgrund, warum Implantat-Nutzer bisher Schwierigkeiten haben, Musik und Sprache in lauter Umgebung wahrzunehmen, ist, dass die Cochlea mit Flüssigkeit gefüllt ist. Wird sie mit Strom stimuliert, kommt es zu einer breiten Streuung der Erregung“, sagt Dr. Antoine Huet, Mitautor der Studie und MBExC Junior Fellow, UMG.
„Da sich Licht in Flüssigkeit besser räumlich begrenzen lässt, kann unsere Technik die Hörnervenzellen in der Cochlea mit viel größerer Präzision stimulieren. Dies würde bedeuten, dass künftige potenzielle Nutzer ein ‚nahezu physiologisches Hören‘ wiedererlangen könnten. Für die Wahrnehmung von Musik und Gesprächen bei Hintergrundgeräuschen ist eine exzellente Frequenzauflösung des Klangs der technische Schlüssel, und das kann mit elektrischer Stimulation nicht erreicht werden.“
In künftigen Studien werden die Kooperationspartner das Medikament weiter verbessern und prüfen, wie genau es das Gehör wiederherstellt. „Unsere Computervorhersagen und tierexperimentellen Studien legen nahe, dass das Hören mit Licht das Potenzial hat, einen nahezu physiologischen Höreindruck zu ermöglichen. Bis zum Beginn einer klinischen Studie müssen noch einige Meilensteine erreicht werden", sagt Moser.
Das Göttinger Exzellenzcluster Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen (MBExC) wird seit Januar 2019 im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert. Mit einem einzigartigen interdisziplinären Forschungsansatz untersucht MBExC die krankheitsrelevanten Funktionseinheiten elektrisch aktiver Herz- und Nervenzellen, von der molekularen bis hin zur Organebene. Hierfür vereint MBExC zahlreiche universitäre und außeruniversitäre Partner am Göttingen Campus.
Das übergeordnete Ziel ist: Den Zusammenhang von Herz- und Hirnerkrankungen zu verstehen, Grundlagen- und klinische Forschung zu verknüpfen und damit neue Therapie- und Diagnostikansätze mit gesellschaftlicher Tragweite zu entwickeln.