Das fahrerlose Transportfahrzeug (FTS) bahnt sich seinen Weg durch die Halle. Kurz bevor es an Felipe Garcia Lopez vorbeifährt, versperrt ihm der Mathematiker unerwartet den Weg. Doch die Kollision bleibt aus. Stattdessen ändert der Serviceroboter augenblicklich seine Route und umfährt Garcia Lopez mit einem Sicherheitsabstand. Hier im Applikationszentrum Industrie 4.0 am Fraunhofer IPA testen Garcia Lopez und seine Kollegen Stefan Dörr, Jannik Abbenseth, Benjamin Maidel, Felix Zeltner und Falk Engmann ein Softwaresystem, das sie selbst entwickelt haben. Mit ihrer Forschungsarbeit wollen die sechs Wissenschaftler um Gruppenleiter Kai Pfeiffer Leitlinien auf dem Boden und andere starre Installationen in Produktions- und Lagerhallen überwinden und stattdessen die freie Navigation mobiler Roboter auch in dynamischen Umgebungen ermöglichen. Denn die vierte industrielle Revolution verlangt nach der wandlungsfähigen Produktion, in der Kleinserien und Sonderanfertigungen mit derselben Effizienz produziert werden wie Massenware.
Orientierung im Raum
Longterm-SLAM heißt eine der beiden Softwaremodule, die die Wissenschaftler entwickelt haben. SLAM steht für Simultaneous Localization and Mapping. Dahinter steckt ein Verfahren, bei dem ein mobiler Roboter oder ein fahrerloses Transportfahrzeug seine genaue Position im Raum ermittelt und dabei gleichzeitig die Umgebung kartiert und diese Karte zur Pfadplanung verwendet. In diese Umgebungskarte, egal ob Halle oder Gebäudeflure, tragen alle mobilen Roboter laufend erkannte Objekte ein.
„Das können Schränke sein, die ja häufig über Jahre immer an der gleichen Stelle stehen. Aber genauso gut auch Gitterboxen oder geparkte Gabelstapler, die immer nur für kurze Zeit an einem Ort verbleiben“, erklärt Dörr. Es sind diese vermeintlich oder tatsächlich statischen Objekte, die einem Roboter Anhaltspunkte liefern, damit er seine aktuelle Position im Raum lokalisieren kann. Es fließen aber auch Sensordaten und odometrische Berechnungen (Lageschätzung durch Daten des Vortriebsystems) mit ein. „In einem statischen Umfeld genügt es, wenn ein Roboter bei seinem ersten Einsatz einen SLAM durchführt“, so Dörr weiter. „Auf diese Umgebungskarte kann er sich dann bei jeder weiteren Pfadplanung stützen.“
Vorausschauende Pfadplanung
Weil sich in betriebsamen Produktions- und Lagerhallen aber mit jeder Sekunde etwas an der Umgebungskarte ändert, genügt das anfängliche SLAM-Verfahren nicht: „Je weiter sich die Realität in der Werkshalle von der hinterlegten Umgebungskarte entfernt, desto schlechter kann ein mobiler Roboter oder ein fahrerloses Transportfahrzeug seine aktuelle Position lokalisieren“, erklärt Dörr. Er und seine Kollegen haben deshalb das Longterm-SLAM-Verfahren entwickelt: Dabei erfasst ein mobiler Roboter laufend seine Umgebung, während er vom einen zum anderen Punkt navigiert. Alle Änderungen vermerkt er umgehend in der Umgebungskarte, die so immer auf dem neuesten Stand ist. „Damit ist ein Roboter in der Lage, seinen Pfad ständig zu optimieren und allen potenziellen Hindernissen auszuweichen“, so Dörr.
Perlenbesetzte Gummibänder
Dennoch kann ein mobiler Roboter oder ein FTS während der Navigation jederzeit auf ein unvorhergesehenes Hindernis stoßen. „Bisher haben mobile Systeme dann einfach vor dem Hindernis angehalten und nach einer vorgegebenen Wartezeit auf ihre Situation aufmerksam gemacht“, erklärt Garcia Lopez. Doch mit dem Softwaremodul Elastic-Band gibt es eine elegantere Lösung: „Sie ist für die reaktive Bahnplanung verantwortlich und berechnet eine optimierte Ausweichroute“, erklärt Garcia Lopez. „Theoretisch kann ein Roboter die Entscheidung für eine alternative Bahn völlig autonom treffen, auch wenn das in der Praxis meist nicht gewünscht wird.“ Wie genau Elastic-Band funktioniert, lässt sich am besten mit einem Gummiband veranschaulichen, auf das Perlen gefädelt sind: Spannt man es von der aktuellen Position des mobilen Roboters zu dessen Zielpunkt, beschreibt es im Idealfall eine exakte Gerade. Die Größe der Perlen symbolisiert dabei die Abmessungen des Roboters zusammen mit dem Mindestabstand, den er aus Sicherheitsgründen stets einhalten muss. „Ein potenzialfeldbasiertes Verfahren regelt, wie sich das perlenbesetzte Gummiband durch die Gänge eines Hochregallagers schlängelt“, erklärt Garcia Lopez. „Von allen Objekten im Raum gehen abstoßende Kräfte aus, die das Gummiband auf Abstand halten. Stark vereinfacht heißt das: Der Roboter folgt am Ende einfach dem Weg des geringsten Widerstands.“
Cloudbasierte Navigation
Longterm-SLAM und Elastic-Band optimieren also die Navigation in einem Umfeld, das sich mit jeder Sekunde ändert. Für jeden einzelnen mobilen Roboter. Völlig unabhängig voneinander. „Dabei müssen die einzelnen Roboter gar nicht alle mit Sensoren ausgestattet sein, um perfekt navigieren zu können“, sagt Jannik Abbenseth. „Er muss noch nicht einmal seinen Pfad selbst planen können. Das kann genauso gut ein leistungsstarker Navigationsserver für ihn und alle anderen mobilen Roboter in der Fabrikhalle erledigen.“
Die Cloud liefert hier eine praktikable Lösung: Über sie sind alle fahrerlosen Transportfahrzeuge und mobilen Roboter sowie eine Reihe von stationären Laserscannern, die in der Werkshalle montiert sind, miteinander vernetzt und liefern quasi in Echtzeit die Daten, die für Lokalisation, Kartierung, Pfadplanung und -optimierung nötig sind. Die rechenintensiven Navigationsalgorithmen führt bei dieser sogenannten kooperativen Pfadplanung ein zentraler Server aus. „Er weist jedem einzelnen Roboter seine individuelle Route zu“, erklärt Abbenseth. So kann ein fahrerloses Transportfahrzeug in einer dynamischen Umgebung spontan jedem Hindernis ausweichen, sogar dann, wenn es mit den Sensoren, die dafür nötig sind, selbst gar nicht ausgestattet ist.
Umdenken in der Industrie
Was die sechs Wissenschaftler modellhaft im Applikationszentrum Industrie 4.0 vorführen, findet zusehends Anwendung in der Industrie. „Immer mehr Unternehmen kommen von starren Robotersystemen mit Leitlinien auf dem Boden ab, weil sie erkennen, welche ungeahnten Möglichkeiten ihnen Longterm-SLAM und Elastic-Band bieten“, sagt Dr. Kai Pfeiffer, Leiter der Gruppe Servicerobotik für Industrie und Gewerbe am Fraunhofer IPA, die das Applikationszentrum teilweise nutzt. „Mit diesen beiden Softwarelösungen wird einerseits die wandelbare Produktion möglich. Andererseits liefern sie über die Cloud in Echtzeit Daten. Diesen digitalen Schatten nutzen Produktionsplaner zur Optimierung und Umplanung.“
Auf der Automatica 2018 zeigt das Fraunhofer IPA, wie die cloudbasierte Navigation realitätsnahe Simulationen ermöglicht. Mitverfolgen lässt sich das entweder am PC oder vor Ort mit einer Augmented-Reality-Brille. Halle A4, Stand 421