Für das Leben ist das Erdmagnetfeld essenziell – es schützt vor kosmischer Strahlung und vor dem Sonnenwind. Hervorgerufen wird es durch den sogenannten Geodynamo-Effekt. „Wir wissen, dass der Erdkern hauptsächlich aus Eisen besteht“, erläutert Attila Cangi, Leiter der Abteilung Maschinelles Lernen für Materialmodellierung am CASUS. „Wenn man sich dem Erdmittelpunkt nähert, steigen sowohl die Temperatur als auch der Druck. Der Temperaturanstieg führt zum Schmelzen der Stoffe, während der Druckanstieg dazu führt, dass die Stoffe fest bleiben. Aufgrund der Temperatur-Druck-Verhältnisse liegt der äußere Erdkern im geschmolzenen Zustand vor, der innere im festen Zustand.“ Angetrieben durch Erdrotation und Konvektionsströmungen bewegt sich das flüssige, elektrisch geladene Eisen um das feste Eisen. Diese Bewegung erzeugt elektrische Ströme, die dann wiederum das Magnetfeld unseres Planeten hervorrufen.
Doch bei den Details gibt es unbeantwortete Fragen: Wie ist der Erdkern im Einzelnen beschaffen? Und welche Rolle spielen andere Elemente, die es neben dem Eisen dort wahrscheinlich gibt? Beides dürfte den Geodynamo-Effekt signifikant beeinflussen. Einen gewissen Aufschluss darüber geben Experimente, bei denen Fachleute seismische Wellen durch unseren Planeten schicken und deren „Echos“ mit empfindlichen Sensoren auffangen. „Diese Versuche legen nahe, dass der Erdkern nicht nur Eisen enthält“, erklärt Sandia-Forscher Svetoslav Nikolov, Erstautor der Veröffentlichung. „Denn die Messwerte stimmen nicht mit Computersimulationen überein, die von einem reinen Eisenkern ausgehen.“
Schockwellen im Computer
Fortschritte bei der Frage der Zusammensetzung des Erdkerns verspricht nun ein neue Simulationsmethode, die das Forschungsteam entwickelt und getestet hat. Die zentrale Neuheit des Molekular-Spin-Dynamik-Verfahrens liegt in der Kombination zweier bislang getrennter Simulationsmethoden: der Molekulardynamik, die die Bewegung von Atomen beschreibt, und der sogenannten Spindynamik, die die magnetischen Eigenschaften berücksichtigt. „Durch die Kombination der beiden Methoden waren wir in der Lage, den Einfluss des Magnetismus unter hohen Druck- und Temperaturbedingungen und über bisher nicht erreichbare Längen- und Zeitskalen zu untersuchen“, betont der CEA-Physiker Julien Tranchida.
Konkret hat das Team das Verhalten von zwei Millionen Eisenatomen und deren Spins simuliert, um dadurch die dynamische Wechselwirkung zwischen mechanischen und magnetischen Eigenschaften zu analysieren. Dabei fanden auch KI-Methoden Verwendung: Durch den Einsatz maschinellen Lernens wurden die sogenannten Kraftfelder – die Wechselwirkungen zwischen den Atomen – präzise bestimmt. Die Forscher generierten und trainierten ihre Modelle mithilfe von Hochleistungsrechnern.
Anschließend startete die eigentliche Simulation: Im Rechner erstellten die Wissenschaftler ein aus zwei Millionen Eisenatomen bestehendes Modell, das repräsentativ für den gesamten Erdkern ist. Dann setzten sie es Temperatur- und Druckverhältnissen aus, die im Erdinneren herrschen. Dafür ließen sie Druckwellen durch die Eisenatome laufen und simulierten so deren Erhitzung und Kompression. Wählten sie eine geringere Geschwindigkeit für diese sogenannten Schockwellen, blieb das Eisen fest und nahm unterschiedliche Kristallformen an. Waren die simulierten Schockwellen schneller, wurde das Eisen weitgehend flüssig.
Bemerkenswert war die Erkenntnis, dass magnetische Effekte die Materialeigenschaften erheblich beeinflussen. „Unsere Simulationen stimmen gut mit experimentellen Daten überein“, sagt der Materialwissenschaftler Mitchell Wood von den Sandia National Laboratories. „Und sie weisen darauf hin, dass sich in einem bestimmten Temperatur-Druck-Bereich eine spezielle Eisenphase stabilisieren könnte, die möglicherweise Einfluss auf den Geodynamo hat.“ Dieser Zustand, bcc-Phase genannt, wurde bei Eisen unter diesen Bedingungen bisher nicht experimentell beobachtet, sondern nur hypothetisch vermutet. Sollten sich die Ergebnisse des Molekular-Spin-Dynamik-Verfahrens bestätigen, dürften sich einige Fragen um den Geodynamo-Effekt klären.
Impulse für stromsparende KI
Doch die Methode bietet nicht nur neue Einblicke in das Erdinnere, sondern hat auch das Potenzial technologische Entwicklungen in den Materialwissenschaften voranzutreiben. Konkret will Cangi das Molekular-Spin-Dynamik-Verfahren in seiner Abteilung und in Kooperationen auf das sogenannte neuromorphe Computing anwenden. Darunter versteht man eine neue Art von Hardware, die sich an der Funktionsweise des menschlichen Gehirns orientiert und die KI-Algorithmen künftig schneller und stromsparender abarbeiten könnte. Das neue Simulationsverfahren soll gezielt spinbasierte neuromorphe Systeme digital nachbilden und helfen, effizientere Hardware-Lösungen für maschinelles Lernen zu entwickeln.
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Eine zweites Anwendungsfeld liegt in der Datenspeicherung: Magnetische Bereiche entlang von winzigen Nanodrähten könnten künftig als ein Speichermedium dienen, das schneller und energiesparender als die herkömmlichen Technologien ist. „Für beide Anwendungen gibt es noch keine präzisen Simulationsmethoden“, sagt Cangi. „Ich bin zuversichtlich, dass wir mit unserem neuen Ansatz die physikalischen Prozesse realitätsgetreu nachbilden und damit die Entwicklung dieser IT-Innovationen deutlich beschleunigen können.“