Interview mit Dr. Joseph Dörmann von der SRH Hochschule Hamm „Die Logistik kommt nicht wegen schlechter Lagerwirtschaft zum Erliegen“

Dr. Joseph Dörmann ist Studiengangsleiter für den Studiengang „Supply Chain Management M.Sc.“ und Hochschullehrer für technische Logistik an der SRH Hochschule Hamm. Mehr als zehn Jahre war er in verschiedenen Leitungs- und Managementfunktionen in der Industrie tätig.

Bild: SRH Hochschule Hamm
22.04.2020

Seit Wochen beeinflusst das Coronavirus unseren Alltag und stellt unsere Wirtschaft vor große Herausforderungen. Von leeren Regalen in Supermärkten, kilometerlangen Staus an den Grenzen bis hin zu einem zunehmenden nationalen Protektionismus. Die Logistik und Lagerwirtschaft soll versagt haben und schlecht auf die Krise vorbereitet gewesen sein, heißt es. Dr. Joseph Dörmann von der SRH Hochschule Hamm sieht das Problem an anderer Stelle.

Warum ist unsere Logistik auf eine solche Krise nicht vorbereitet?

An dieser Stelle möchte ich vorab allen Mitarbeitern, die in der Logistik oder angrenzenden Bereichen tätig sind, einen großen Dank aussprechen. Sie halten unseren Alltag auch in dieser sonderbaren Zeit aufrecht. Meiner Meinung nach ist das komplexe logistische System „Deutschland“ bislang nicht zum Erliegen gekommen und somit der lebende Beweis dafür, dass es sich selbst in einer solchen Krisenzeit schnell anpasst. Wir sind weit entfernt von kritischen Ausnahmezuständen, die wir alle in den internationalen Nachrichten verfolgen können.

Wie kann es dann sein, dass Regale leer stehen?

Die Regale in Drogerien und Supermärkten stehen leer, da ein unerwartetes und untypisches Kundenverhalten aufgetreten ist. Obwohl in den letzten Jahren stets die gewünschten Produkte verfügbar waren, zweifeln die Kunden an der Versorgungssicherheit. Es wird angenommen, dass Menschen in stressigen Situationen mit „Fight, Flight or Freeze“ reagieren, sodass auch hinsichtlich der Versorgungssituation Hektik aufkam. Das Verhalten des „Hamsterns“ kann als Stressreaktion des Menschen gewertet werden, die aufgrund einer Bedrohung ausgelöst werden kann. Aufgrund der sich überschlagenden Meldungen ist ein Großteil der Bevölkerung in Panik geraten und hat spezifische Produkte eingelagert. Für die Versorgungslogistik der Supermärkte wäre das gegenteilige Verhalten des „Erstarrens vor Angst“ der leichter zu bewältigende Fall, da so der stetige Ver- und Entsorgungsstrom erhalten geblieben wäre. Sobald sich alle verunsicherten Kunden einen für sich persönlich ausreichenden Lagerbestand aufgebaut haben, wird sich das Versorgungssystem wieder auf ein gewohntes Maß einpendeln.

Wie lange dauert dieser Zeitraum Ihrer Meinung nach an?

Für einen Großteil der Produkte in Supermärkten ist bereits wieder Normalität eingekehrt. In den ersten Tagen las ich, dass Lebensmittel, Konserven und selbst grundlegende Produkte wie Mehl und Hefe angeblich knapp geworden seien. Sicher kann man da von einer „lokalen“ Verknappung sprechen, wenn das Regal leer ist, aber mittlerweile habe ich selbst schon geschickte Lösungen der Verpackungslogistik gesehen. Hefe wird mittlerweile in größeren Paketen angeboten, die der Kunde dann teilen und einfrieren kann. Bei dem Stichwort „Toilettenpapier“ ist die Produktion und Versorgung jedoch auch vom Verbrauch abhängig. Wenn ein Zuviel an Material aus dem Kreislauf entnommen wird, indem zum Beispiel jeder Haushalt sich einen untypischen Lagerbestand in zu kurzer Zeit aufbaut, können Produzenten ohne Recyclingmaterial kein Toilettenpapier mehr liefern. Die Logistik kommt daher zum Erliegen und nicht wegen einer schlechten Lagerwirtschaft.

Haben Sie eine Idee, wie wir leeren Regalen hätten vorbeugen können?

Es gibt mehrere Wege nach Rom: Ein gesunder Vorrat in einem Haushalt hat noch nie geschadet; und diesen sollte man einfach in guten und in schlechten Zeiten pflegen. Selbiges Handeln wird in der professionellen Lagerwirtschaft in der Logistik und im Handel gepflegt. Um in Zukunft nicht wieder vor leeren Regalen zu stehen, könnte man mit den konventionellen und traditionellen Strategien der Logistik vorgehen: Produzenten oder Logistikunternehmen könnten in Zukunft mit größeren Lagern reagieren; jedoch sollte jedem Endkunden klar sein, dass selbst die Vorhaltung von Toilettenpapier in einer Lagerhalle nicht unerhebliche Kosten verursacht und nicht des Rätsels Lösung sein kann. Im Onlinehandel betreiben Plattformen in sehr seltenen Fällen große, eigene Lager. Es ist die Transparenz über die Verfügbarkeit in einer angemessenen Zeit, die die Plattform für den Nutzer und Endkunden attraktiv macht. Auf das Beispiel des Toilettenpapiers zurückgeführt, bedeutet dies nichts anderes als: In meiner Umgebung meldet ein zuverlässiges System den ausreichenden Bestand für alle Kunden, solange keiner einen übermäßigen hohen, dezentralen Lagerbestand aufbaut. Die maßgebenden Stichworte sind somit Transparenz und Sicherheit der Daten in der Versorgungskette.

Denken Sie, dass das Coronavirus die Logistik der Zukunft verändern könnte?

Möglicherweise führt die aktuelle Krise dazu, dass die Warenwirtschaft entlang der Produktionskette digitaler und transparenter wird. Weiterhin werden sicherlich bestehende Krisenpläne in den Branchen angepasst und ergänzt werden. Zuweilen liefern die Deutsche Post und 3PL-Unternehmen noch täglich aus und haben Konzepte, die auch bei dramatischeren Ausfällen noch funktionieren werden, aber die globalen Auswirkungen in den Zuliefererketten werden sicherlich langfristigen und nachhaltigen Einfluss nehmen. Möglicherweise werden wir in naher Zukunft flexible und modulare Produktionskapazitäten errichten, die in Notständen eine regionale Produktion gewährleisten. Diese Lösung erwarte ich persönlich in der Pharmaindustrie. Unsere Logistik im Alltag wird dieser Virus sicherlich ebenfalls verändern: Unser Reiseverhalten wird aktuell stark beeinflusst. Vertriebsmitarbeiter können nicht zum Kunden und auch unsere Urlaubsreisen finden nicht statt. Der Vertrieb erlebt gerade eine forcierte Digitalisierung und wird sich noch weitere Wege zur Kundenansprache erarbeiten. Das Interesse an Reisen wird sicherlich bleiben, aber voraussichtlich wird der jeweilige regionale Markt zum Urlauber ein erhöhtes Interesse wecken können.

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