Wer bei Ventilatoren an Geräte mit üblichen Industriemaßen denkt, wird bei den Ventilatoren der EVG Lufttechnik (EVG) aus Eberdingen-Hochdorf überrascht sein. Denn diese können einen Durchmesser von mehreren Metern haben. Neben Ventilatoren für Industrieanwendungen entwickelt und fertigt EVG auch Systeme für Windkanalanwendungen, Indoor-Skydiving-Windtunnel, Prüfstände für die Formel 1 und Fahrtwindgebläse. Die Ventilatoren können bei sehr hohem Wirkungsgrad und niedrigen Schallwerten Luftgeschwindigkeiten in der Flugkammer von weit über 300 km/h erreichen.
Ventilatoren sind das Herzstück des Windkanals
Ein Auftrag aus den USA stellte die Spezialisten der EVG vor eine besondere Herausforderung. Für einen großen Windkanal des NASA Langley Research Center, einer Forschungseinrichtung der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA in Hampton (Virginia, USA), soll das Unternehmen dessen Herzstück liefern: die Ventilatoren samt Frequenzumrichter. Der neue Windkanal mit der Bezeichnung Flight Dynamics Research Facility (FDRF) wird den Forschern einen äußerst vielseitigen und kosteneffizienten vertikalen Windkanal für die Durchführung von Forschungs- und Technologieentwicklungsarbeiten zur Verfügung stellen, die verschiedene NASA-Missionen unterstützen, darunter Luftfahrtforschung, Weltraumforschung und Wissenschaft.
Von entscheidender Bedeutung werden die vier Axialventilatoren einer neu eingeführten Baureihe von EVG mit einem Durchmesser von 4,25 m und einer Antriebsleistung von je 560 kW sein. Diese Ventilatoren sind ähnlich wie die Skydive-Modelle von EVG aufgebaut und ebenfalls mit Carbonflügeln ausgestattet. Aufgrund der leichten Flügel kann das für den FDRF geforderte breite Leistungsspektrum gewährleistet werden; Veränderungen der Drehzahl sind innerhalb kürzester Zeit möglich. Im Gegensatz zu Skydive-Ventilatoren ist die Drehachse in diesem Windkanal aber horizontal. Daher wurde das Design auf diese Einsatzart angepasst.
Der FDRF wird wesentlich leistungsfähiger sein als die beiden bestehenden Tunnel in Hampton, die er ersetzt. Zu den neuen Fähigkeiten gehören ein höherer dynamischer Druck, höhere Reynoldszahlen und weniger Turbulenzen im Freistrahl. All dies wird es der NASA und ihren Partnern aus der Industrie ermöglichen, die Luftströmung um Luft- und Raumfahrtfahrzeuge detaillierter als bisher zu untersuchen.
Größtes Projekt der Firmengeschichte
Rainer Strobel ist als Account Manager bei der EVG unter anderem verantwortlich für den Vertrieb und die Projektierung (technische Auslegung) von Industrieventilatoren sowie für das Projektmanagement. Er erläutert den Aufbau des Windkanals: „Es handelt sich um eine vertikale Flugkammer mit einem Luftstrom von unten nach oben. Die Luft wird in einem geschlossenen Kreislauf gefördert. Im unteren horizontalen Ast befinden sich die Ventilatoren – zwei auf der West- und zwei auf der Ostseite. Die Luft wird über Umlenkbleche in die Kammer geleitet, die gleichzeitig auch dafür sorgen, dass darin ein möglichst homogener Luftstrom erreicht wird.“
Der Account Manager ergänzt: „Dieses Projekt ist das größte in der EVG-Firmengeschichte. Wir können stolz darauf sein, mit unserem relativ kleinen Unternehmen den Zuschlag dafür erhalten und es in der Kürze der Zeit mit allen technologischen Herausforderungen gemeistert zu haben.“
Jeder Ventilator stellt einen Volumenstrom von bis zu 400 m3 /sec zur Verfügung. Die vier Ventilatoren bringen zusammen also eine maximale Leistung von 1.600 m³/sec bzw. von 5,76 Millionen m3 /h. Die großen Axialventilatoren mit Carbon-Flügeln werden auch in Skydive- und Windtunnel-Anlagen eingesetzt. Neben einer hohen Leistungsfähigkeit und betrieblichen Flexibilität zeichnen sie sich durch eine extreme Laufruhe aus.
Leistungsstarker Mittelspannungsantrieb
Die Ventilatoren haben eine Leistung von jeweils 560 kW. Diese braucht es, um den inneren Druckverlust in der Kammer überwinden zu können, der sich durch die Luftumlenkung ergibt. Der erforderliche leistungsstarke Antrieb für die vier Ventilatoren kommt von ABB Motion. Der Technologiekonzern liefert seit 2019 die Antriebe für die Carbon-Ventilatoren des Unternehmens. Für dieses Projekt hat EVG zum ersten Mal Mittelspannungsantriebe bei ABB geordert.
Für ABB Motion brachte der Auftrag eine weitere Premiere mit sich, denn es konnte erstmals ein Mittelspannungs-Frequenzumrichter ACS2000 in US-Ausführung in Deutschland verkauft werden. Die Lieferung an EVG umfasst vier ACS2000 (4.160 V, 560 kW) in NEMA-Version mit AFE (Active Front End) und DTL (Direct-to-Line-Verbindung) für den 4Q-Betrieb sowie vier Hochspannungsmotoren AXR450MN8 (560 kW, 4,16 kV, 550 U/min).
Auf die Frage, warum sich EVG bei diesem Projekt für Antriebstechnik von ABB entschieden hat, antwortet Rainer Strobel: „Die Zusammenarbeit zwischen ABB und EVG hat sich bewährt. Technologisch war auch entscheidend, dass ABB den gesamten Mittelspannungsantrieb, bestehend aus Motor und Frequenzumrichter, liefern kann, mit dem die erforderlichen Zyklus-Anforderungen erfüllt werden.“
Hohe Anforderungen an Motoren werden erfüllt
Die Motoren sind zentral in den Ventilatoren verbaut. Sie sind umkapselt, damit der Wind ohne Widerstand an ihnen vorbeiströmen kann. Zur Kühlung sind die Motoren mit separaten Kühlventilatoren ausgestattet. Aufgrund der Testzyklen, die auf dem Windtunnel künftig gefahren werden, werden besondere Anforderungen an extrem kurze Beschleunigungs- und Bremszeiten der Motoren gestellt. Eine Forderung lautet beispielsweise, die Ventilatoren innerhalb von 5 s von der Standby-Leerlauf-Drehzahl auf eine vorgegebene Testgeschwindigkeit hochfahren zu können. Dazu Rainer Strobel: „Das war eine technische Herausforderung, die wir an ABB herangetragen haben. ABB hat uns versichert, dass es geht. Und es funktioniert!“
Die für das Projekt benötigten Motoren wurden im ABB-Werk in Helsinki gebaut, die Mittelspannungs-Frequenzumrichter ACS2000 mit einer Spannung von 4.150 V stammen aus dem Werk in New Berlin (Wisconsin/USA). Für den Abnahmetest am 19. Januar 2023 im Beisein von NASA-Vertretern und der beteiligten Firmen wurden auf dem Betriebsgelände von EVG in Hochdorf extra ein Generator und ein Transformator angemietet, um den Antrieb unter reellen Bedingungen testen zu können. Dazu wurde auch einer der vier ACS2000 aus den USA ins EVG-Werk geliefert, um die Gesamteinheit aus Ventilator und Antriebstechnik über den vollen Leistungsbereich testen zu können.
Im Abnahmetest konnte die Ventilator-Antriebs-Kombination bei verschiedenen Testfahrten ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. In absehbarer Zukunft kann die NASA mit ihrer Hilfe nützliche und wichtige Erkenntnisse in ihrem neuen Windkanal gewinnen. Der Bau der Flight Dynamics Research Facility wird voraussichtlich Ende 2024 abgeschlossen sein.