Die Automatisierung fördertechnischer Prozesse ist seit jeher Innovations- und Investitionstreiber der Intralogistik. In vielen Bereichen lassen sich Prozesse über unterschiedlichste fördertechnische Lösungen automatisieren und Material- und Warenflüsse beschleunigen und Arbeitsprozesse verkürzen.
Es gibt aber auch Bereiche, die sich nicht ohne Weiteres über fest installierte Fördertechnik automatisieren lassen. Nicht jedes Lager kann also ein automatisiertes Hochregallager werden. So etwas lohnt sich nur, wenn die vergleichsweise hohen Investitionskosten auch zum Durchsatz passen und weitestgehend standardisierte Lagerplätze genutzt werden können.
Optimierung des Werbemittelversand
Die Werbemittel bei der Ratiopharm-Tochter Transpharm Logistik wechseln jedoch häufig, haben unterschiedliche Formen, Größen und Gewicht. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommissionieren sie daher stets individuell für die jeweiligen Empfänger. Dennoch sollte Martin Zwiebel, Supply Chain Analyst bei Transpharm, auch diesen Werbemittelversand weiter optimieren.
„Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommissionierten Werbeartikel früher mithilfe sperriger Kommissionierwagen“, beschreibt Zwiebel die Situation. Mit Tablets ausgerüstet und teils durch Pick-by-Light Systeme unterstützt, suchten sie die Ware aus dem gesamten Lager zusammen und fuhren den fertig kommissionierten Wagen eigenständig in die Packerei, wo die Werbemittel versandfertig gemacht wurden.
„Auf der Suche nach einer schnelleren und einfacher zu handhabenden Lösung stellte sich heraus, dass ein fahrerloses Transportsystem deutliche Vorteile versprach“, sagt der Analyst. Gefunden werden musste also ein bezahlbarer Roboterwagen, der selbstständig seinen Weg zum nächsten Lagerplatz findet, dabei einer festgelegten optimierten Route folgt und so zum ständigen Begleiter der Mitarbeitenden wird, der eigenständig fährt.
Kompatibilität ist der Schlüssel zum Erfolg
Zwiebel entschied, mit Xito eine offene, herstellerunabhängige Plattform zu testen. Xito ist ein modulares Baukastensystem und Software-Ökosystem des Anbieters Toolify Robotics für die Konzeption, Schnittstellenmoderation, Umsetzung und Betrieb von maßgeschneiderten autonomen Intralogistikfahrzeugen und -Robotern. Entstanden ist es aus einem gemeinsamen Projekt mehrerer Universitäten.
Das Start-up Toolify hat dieses Konzept nun als Spin-off der Technischen Hochschule Ulm bis zu einer marktreifen Lösung weiterentwickelt. Mit ihr hat sich Zwiebel seinen autonom fahrenden Kommissionierwagen nach eigenen Anforderungen zusammengesetzt.
„Ich kann mir jeweils die besten Komponenten vom Xito-Marktplatz raussuchen und sie miteinander verbinden“, erörtert Zwiebel. Der Xito-Marktplatz bietet mittlerweile über 50 Hardware-Bausteine für unterschiedliche autonome Transportlogistik und mobile Pick&Place-Robotik-Anwendungen: Navigation, Augmented- oder Virtual-Reality, Lokalisierung, intelligente Hindernisvermeidung, Sprach- und Objekterkennung oder RFID-Leser. Sogar Greifen und Positionieren wäre möglich.
Dr. Dennis Stampfer, Geschäftsführer und Mitgründer von Toolify Robotics hat die hierfür notwendige Software des Baukastensystems mit seinem Team entwickelt. „Wir bieten leicht zu bedienende Werkzeuge, um Plug & Play-Komponenten zu schaffen, mit denen man vergleichsweise einfach auch durchaus komplexe Robotik-Anwendungen realisieren kann“, sagt Dr. Stampfer.
Die Programmierung von Roboteranwendungen wird durch Xito vereinfacht und beschleunigt, ohne dass Expertenwissen notwendig ist. „Das Gesamtsystem besteht aus vielen unterschiedlichen Teil-Systemen und Geräten. Wir sind mit unserer herstellerunabhängigen Plattform die Dolmetscher.“
Robotik und Automatisierung für alle nutzbar
Das Ergebnis bei Transpharm ist ein kollaborativer mobiler Roboter, der den Kommissionierern selbstständig zum nächsten relevanten Regalplatz folgt. Bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kam ein Pilotprojekt mit mehreren Robotern hervorragend an: Seitdem werden sie bei ihrer Arbeit unterstützt und müssen die schweren Kommissionierwagen nicht mehr von Hand schieben.
Wie gehabt, beginnt die Kommissionierung an einem definierten Startpunkt, doch jetzt wird nicht mehr ein neuer Kommissionierwagen genommen, der wie ein Einkaufswagen geschoben werden muss. Es wartet vielmehr ein autonom fahrender Roboter mit Transportwanne, der sie begleitet. Wenn alle Picks getätigt sind, schicken sie den Roboter mit fertig kommissionierter Ware zur Packerei. Dorthin sowie auch im Lager fährt der Wagen autonom über routenoptimierte definierte Pfade. Ein leerer Roboter wartet bereits am Startpunkt für die nächste Kommissionierungsaufgabe.
„Wir konnten mit Xito einfach, schnell und kostengünstig ein autonomes Logistikfahrzeug entwickeln, das perfekt zu unserer individuellen Kommissionieraufgabe passt“, bestätigt Zwiebel. „Alles hat einwandfrei funktioniert. Das ist nicht selbstverständlich. Ohne einen Baukasten wie den von Xito herrscht vielfach eine nicht hinreichende Kompatibilität von Komponenten und können bei der Entwicklung solcher Soft- und Hardwarelösungen immens hohe Kosten entstehen – oftmals zu hohe für die meisten kleinen und mittelständischen Unternehmen.“
Je nach Anforderung sparen Anwender mit Xito jedoch bis zu 75 Prozent der Entwicklungs- und Implementierungszeit herkömmlicher Lösungen. Sie können auf einfache, günstigere Standardkomponenten zurückgreifen, die ohne den Xito Baukasten nicht miteinander kommunizieren könnten. Weiterer Vorteil: Sie können die Bausteine wieder- und anders verwenden. Dadurch werden heute manche Lösungen praktikabel, die sich früher nur bei hohem Durchsatz und hundertfacher Skalierung amortisierten. Bei Transpharm reichen für das Werbemittellager drei solcher autonomen Kommissionierwagen aus.
Modularer Baukasten braucht modularen Prozessor
„Die Integrationsfähigkeit und Modularität von Xito benötigen als eine der Kernkomponenten auch eine modulare und flexible Hardware-Architektur“, erklärt Stampfer. Die Anforderungen der Lösungen an die Rechenperformance sind je nach Zusammenstellung der Baukasten-Komponenten unterschiedlich hoch. Die Plattform ermöglicht es deshalb, mittels Computer-on-Modules von Congatec die Rechenleistung bedarfsgerecht zu skalieren. Neben dem aufgabenbezogene Loadbalancing wird so auch das applikationsbezogene Preis- und Performance-Balancing ermöglicht.
Neuste Computer-on-Modules wurden jüngst beispielsweise auf Basis des COM Express compact Formfaktors auf Basis der neuen Intel Core Prozessoren der 11. Generation (Tiger Lake) verfügbar. Sie sind bis hin zur höchst performanten Intel Core i7 Performance skalierbar. Für low-power oder kostensensitive Applikationen gibt es Module auf Basis der Intel x6000 Intel Atom Celeron und Pentium Prozessoren (Elkhart Lake).
Entwickler können ihre Applikationen schon alleine auf Basis dieser neuen Prozessortechnologie in insgesamt 15 unterschiedlichen Leistungsstufen skalieren. Weitere Varianten sind mit vielen weiteren Prozessorplattformen möglich, die über den Modulstandard COM Express quasi Pin-kompatibel gemacht werden und so über alle Prozessorarchitekturen hinweg skaliert werden können. Für Robotikapplikationen mit besonders rauen Einsatzbereichen stehen sogar Module für den erweiterten Temperaturbereich mit Umgebungstemperaturen von -40 bis 85 °C zur Verfügung.
Das erweitert das Einsatzfeld der Robotik für Logistikapplikationen beispielsweise von Kühlhäusern bis hin zu Großbäckereien, um Stikkenwagen mit heißen Backwaren in unmittelbarer Nähe zu den Öfen zu verfahren.
Erweitert werden diese Optionen zudem durch echtzeitfähige Hypervisor-Technologie, wie die von Real-Time Systems. Mit dem innovativen Hypervisor von Real-Time Systems können mehrere Betriebssysteme – sowohl Echtzeit-Betriebssysteme (RTOS) als auch Standard-Betriebssysteme (GPOS) wie Microsoft Windows oder Linux – gleichzeitig auf x86-Multicore-Prozessoren ausgeführt werden. Die Betriebssysteme laufen parallel auf einem x86-Computer und behalten dabei die harten Echtzeit-Eigenschaften bei. Die modularen Systeme für die Xito Roboter sind somit extrem flexibel auslegbar, um verschiedenste Aufgaben und Subsysteme integrieren zu können.
Gute Preise und gute Verbesserungen
Die Robotik boomt, doch vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen sind die Investitionen zu hoch. „Wir helfen dabei, Roboter einfacher und nachhaltiger zu entwickeln, so dass sich deren Einsatz auch in kleinen Unternehmen lohnt“, erklärt Dennis Stampfer. Ohne Computer-on-Modules, wie sie Congatec bietet, ist eine solche Flexibilität und Modularität jedoch kaum vorstellbar.
Zwiebel schätzt, dass Transpharm die Produktivität durch die neue Roboterlösung zwischen 20 und 25 Prozent steigern konnte. Nun überlegt er bereits, welche nächsten Projekte er mit Xito angehen kann. „In der Kühlkommissionierung stehen wir vor ähnlichen Herausforderungen, ständig wachsendes Portfolio und agilere Prozesse. Hinzu kommen die räumlichen Einschränkungen, die eine Automatisierung mit konventioneller Fördertechnik nicht zulassen“. In der Produktion und der Qualitätssicherung sieht er ebenfalls Potenzial für ein Xito-System und vielleicht lässt sich in Zukunft die Kommissionierung auch automatisch mit einem Roboter-Transportsystem realisieren.
