Muss für mehr Sicherheit auf Privatsphäre verzichtet werden? Mit dem Verhältnis von Überwachung, Privatsphäre und Sicherheit beschäftigt sich das EU-geförderte Forschungsprojekt „Surprise“. Dort werden nicht nur Sachverhalte von Experten berücksichtigt, auch Bürgerinnen und Bürger aus neun europäischen Ländern diskutieren anhand konkreter Beispiele über diese spannungsgeladenen Aspekte und können ihre Stimme dazu abgeben.
Eine der debattierten Technologien betrifft und verändert insbesondere den Charakter öffentlicher Räume in Städten: „intelligente Videoüberwachung“. Stellt Smart CCTV (Closed Circuit Television) einen unverzichtbaren Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit dar oder einen weiteren Schritt Richtung Überwachungsgesellschaft?
Das Auge des Computers
„Intelligente“ Videokameras sind nur eine von vielen Möglichkeiten der Überwachung von menschlichen Aktivitäten. Immer mehr Bereiche unseres Lebens werden von Informationstechnologien durchdrungen. Sie ermöglichen nicht nur neue Formen der Kommunikation und Dienstleistungen, die unseren Alltag erleichtern, sie erlauben auch neue Formen der Überwachung, die bis vor kurzem undenkbar und inakzeptabel gewesen wären. Mobiltelefone verraten permanent unseren Aufenthaltsort. Auch ohne Facebook können über unsere Kommunikationsprofile die beruflichen und privaten Netzwerke, in denen wir uns bewegen, rekonstruiert werden. Und die Internetnutzung lässt genaue Rückschlüsse auf unsere Interessen, Einstellungen, Probleme und Pläne zu. Die bekannt gewordenen Massenüberwachungsprogramme der NSA zeigen, dass all diese technischen Möglichkeiten zu Überwachung auch intensiv genutzt werden.
Nun ist die Videoüberwachung kein neues Phänomen. Im Gegenteil, je nach Kultur und gesetzlichen Regelungen ist die Begegnung mit Videokameras ein alltägliches Ereignis, das für viele unter der Wahrnehmungsschwelle liegt. Und es sind gerade die Unzulänglichkeiten traditioneller Videoüberwachung, die zur Entwicklung von „intelligenten“ Systemen geführt haben. Eine der wesentlichen Unzulänglichkeiten ist wohl im Faktor Mensch begründet: Einerseits ist das stundenlange Beobachten einer Vielzahl von Monitoren für eine effektive Überwachung zu ermüdend, andererseits belegen zahlreiche Beispiele von elektronischem Voyeurismus wie leicht Videoüberwachungssysteme zu Missbrauch und zu schwerwiegenden Verletzungen der Privatsphäre verleiten.
„Intelligente“ Systeme versprechen beide Probleme lösen oder mildern zu können. Computer leiden nicht an Ermüdungserscheinungen oder Konzentrationsschwächen und die Systeme können etwa so gestaltet und programmiert werden, dass private Räume von der Überwachung ausgeschlossen bleiben. In der Realität bleiben diese Versprechen aber meist uneingelöst.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die Ansprüche an moderne Videoüberwachungssysteme reichen von der simplen Erkennung von Mautsündern über die Identifizierung von gesuchten Personen bis hin zur Interpretation von Situationen oder des Verhaltens von Individuen oder Gruppen, um gefährliche Situationen erkennen und einschreiten zu können, bevor es zu einem Schaden kommt.
Das Erkennen von Kennzeichen lässt sich mit vorhandenen Technologien einwandfrei lösen. Die Erkennung von Gesichtern ist weitaus komplexer. Einigermaßen zuverlässig funktioniert sie nur unter standardisierten Bedingungen. Mit dem technischen Fortschritt werden sicherlich auch die Erkennungsraten zunehmen und die Fehlerquoten sich verringern. Dennoch stellt das Verhältnis zwischen fehlerhafter Erkennung und fehlerhafter Abweisung eines der grundsätzlichen Probleme solcher Systeme dar. Je mehr Wert man darauf legt, dass eine gesuchte Person vom System erkannt wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass ähnliche aber andere Personen einen Alarm auslösen. Und umso mehr versucht wird, Fehlalarme zu vermeiden, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass registrierte Gesichter nicht erkannt werden. Ein Kompromiss zwischen diesen beiden Größen ist unvermeidlich.
Dieses Problem stellt sich in noch größerem Ausmaß bei der automatischen Erkennung von gefährlichem, genau genommen von ungewöhnlichem Verhalten. Aus technischer Sicht geht es erstens darum, gewöhnliches und ungewöhnliches Verhalten zu unterscheiden, und zweitens bei außergewöhnlichen Ereignissen zwischen gefährlichen und ungefährlichen zu unterscheiden. Neben diesen wichtigen Fragen von Effizienz und Effektivität wirft der Versuch, menschliches Verhalten von Maschinen klassifizieren und bewerten zu lassen, ethische und rechtliche Fragen auf, die den Kern menschlichen Selbstverständnisses und des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern betreffen. Wenn man das Erkennen gefährlichen Verhaltens Maschinen überlässt, warum dann nicht auch gleich die Abwehr desselben? Werden bewaffnete Drohnen und Polizeiroboter das zu künftige Stadtbild prägen, falls man zum Schluss kommt, das Menschen immer noch zu langsam und zu teuer sind, um eine „allumfassende Sicherheit“ zu garantieren? Und Wissen ist Macht! Mehr Überwachung bringt auch mehr Wissen und mehr Informationen mit sich. Wie können sich die Bürger gegen einen Missbrauch dieser Macht schützen?
Gerade im Bereich Videoüberwachung ließen sich die Prinzipien des Datenschutzes, wie etwa die Datenminimierung in die Technologie selbst zu integrieren, in vielfältiger Weise sinnvoll einsetzen. Während sich Gesichter nur schwer zu Personen zuordnen lassen, sind sie leicht als solche zu erkennen, ebenso Fenster oder Türen, die Einblicke in private Bereiche erlauben. Technologien, die solche Zonen erkennen und verschlüsseln oder von Aufnahmen ausschließen, sind verfügbar. Im Ernstfall können die verschlüsselten Bereiche wieder sichtbar gemacht werden und von Sicherheitsbehörden genutzt werden. Ohne gesetzliche Vorgaben, wie sie etwa für die geplante neue Datenschutzregulierung der Europäischen Union geplant sind, wird sich das Prinzip, durch technische Vorkehrungen Eingriffe in die Privatsphäre zu minimieren, wohl nicht durchsetzen.
Klare Regelungen und etwas mehr an gesundem Menschenverstand sind auch vonnöten, wenn es um den Einsatz von Smart CCTV insgesamt geht. Den Überwachungskameras selbst ist nicht anzusehen, ob sie überhaupt in Betrieb sind, ob die Aufnahmen von Menschen oder von Computern überwacht werden, ob und – wenn ja – wie lange Aufnahmen gespeichert werden. Die Technik wird immer billiger und leistungsfähiger und damit nimmt auch die Tendenz zu, Überwachungstechnologien selbst dann einzusetzen, wenn alternative Lösungen effizienter wären oder wenn die vorhandenen Sicherheitsprobleme die mit einer permanenten Überwachung einhergehenden und tiefgreifenden Eingriffe in die Privatsphäre nicht rechtfertigen. Und sind die Systeme einmal installiert, wächst natürlich auch die Versuchung, diese für weitere Zwecke einzusetzen.
Die Stimmen der Bürger
Über den Einsatz von Sicherheitstechnologien wird zumeist hinter verschlossenen Türen und ohne Einbindung der betroffenen Bürger entschieden. Wie eingangs erwähnt, bekommen im Projekt „Surprise“ Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit geboten mitzureden:
Wie sicher fühle ich mich überhaupt?
Sind Überwachungstechnologien ein geeignetes Mittel, um die Sicherheit zu erhöhen?
Dringen sie in meine Privatsphäre ein und bedrohen sie unsere Grundrechte?
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Vertrauen wir den Behörden und Institutionen, die diese Technologien einsetzen?
Brauchen wir mehr Sicherheit, und wenn ja, welche Art von Sicherheit und mit welchen Mitteln wollen wir dieses Ziel erreichen?
Dies sind einige der zentralen Fragen, über die in Bürgerforen in neun europäischen Staaten mit insgesamt mehr als 2000 Teilnehmern debattiert und abgestimmt wird. Ab Herbst 2014 werden die Ergebnisse auf der Projekt-Homepage http://surprise-project.eu abrufbar sein.