Kunststoffexperte Pascal Bibow im Interview Vom Datenfriedhof zur effizienten Digitalisierung im Spritzguss

Für effizientere Prozesse im Spritzgießprozess ist Wissen ein Schlüsselfaktor, das mithilfe der ISO-zertifizierten Kistler Academy an Mitarbeitende vermittelt wird.

Bild: Kistler
16.08.2024

Der Kunststoffspritzguss ist seit Jahren Vorreiter in der Digitalisierung, angetrieben durch hohe Qualitätsanforderungen und Kostendruck. Frühzeitig wurden Maschinen mit Sensorik ausgestattet, um wichtige Parameter wie Temperatur und Druck zu überwachen und Optimierungspotenziale zu erkennen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen jedoch weitere Digitalisierungsmaßnahmen ergriffen werden. Pascal Bibow, Produktmanager Digital Solutions Plastics, erläutert im Interview aktuelle Entwicklungen.

Herr Bibow, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Kunststoffspritzguss und sind beim Messtechnikexperten Kistler für digitale Lösungen in dem Bereich zuständig. Vor welchen Herausforderungen stehen Spritzgießer heute?

Pascal Bibow


Der Fortschritt durch die Digitalisierung bringt viele Vorteile mit sich, aber auch einen großen Nachteil: eine riesige Datenflut. Viele Unternehmen erheben wahllos Daten, ohne zu wissen, was sie damit erreichen wollen und hoffen dann, dass irgendeine KI daraus schon einen Mehrwert generieren kann. Dieses Phänomen lässt sich in allen Bereichen beobachten, die sich mit Digitalisierung und Industrie 4.0 beschäftigen. Grund dafür ist häufig der Druck, Prozesse zu optimieren und die Idee, möglichst viele Datensätze zu erfassen, zu speichern und die Möglichkeit zu haben, diese irgendwann auszuwerten. Fehlende Zeit, Fachkräftemangel und mangelndes datentechnisches Know-how lassen die Daten dann aber in den Tiefen der Archive verstauben.

In diesen Fällen verfehlt die Digitalisierung ihr Ziel, den Spritzgießer zu unterstützen also komplett. Es gibt doch aber auch den umgekehrten Fall. Was machen diese Unternehmen anders?

Pascal Bibow

Der Schlüssel dazu ist eine zielgerichtete Digitalisierung. Vor der Datenerfassung muss erarbeitet und definiert werden, welche Datensätze der Spritzgießer benötigt, um zuvor festgelegte Ziele zu erreichen. Sind dann die richtigen Daten erfasst, kann der Spritzgießer den Prozess sehr zielgerichtet optimieren – und beispielsweise auf Viskositätsschwankungen reagieren, kürzere Zykluszeiten einhalten, die Produktionseffizienz steigern und Bauteildefekte frühzeitig vermeiden. Dies ist insbesondere beim Einsatz von Rezyklaten notwendig – einem Thema, das allein schon aufgrund gesetzlicher Vorgaben zunehmend an Relevanz gewinnt. Hier treten Produktionsschwankungen auf, die rechtzeitig ausgeglichen werden müssen, um die geforderte Qualität sicherzustellen. All diese Faktoren lassen sich mit entsprechender Sensorik in Prozessüberwachungssystemen erfassen und beherrschen. Bei Abweichungen kann dann automatisiert reagiert werden. Darüber hinaus erhalten Spritzgießer einen Fingerabdruck des Gesamtprozesses in Form von Druckkurven, die für die geforderte lückenlose Dokumentation und Qualitätsberichte nötig sind.

Inwieweit ist die Sensorik daran beteiligt?

Pascal Bibow

Die Sensorik spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, denn ohne Sensoren fehlt die Datengrundlage für die geforderte Transparenz zur Optimierung des Spritzgießprozesses. Hilfreich ist hier, dass die Maschinen, wie oben erwähnt, bereits selbst Werte erfassen, wie zum Beispiel die Temperatur der Düse und den Schneckenweg, beziehungsweise die Einspritzzeit. Diese Daten sind bereits sehr nützlich, reichen aber oft nicht aus, um verschiedene, insbesondere kavitätsbezogene Charakteristika für die bestmögliche Qualität zu untersuchen. Ein Maschinensignal gilt letztlich für alle Kavitäten gleich. Grundlage einer transparenten und effizient steuerbaren Spritzgießfertigung ist daher eine intelligente Werkzeugsensorik. Hier hat sich vor allem die Überwachung des Werkzeuginnendrucks mit direkt, indirekt oder berührungslos messenden Sensoren bewährt, da dieser die höchste Korrelation zur Bauteilqualität liefert. Die gemessenen Daten werden mit automatisch oder manuell definierten Bewertungselementen verglichen. Dabei prüft unsere Software, ob die von den Sensoren gelieferten Kurven die Bewertungselemente wie vordefiniert durchlaufen. Andernfalls leitet der oder die Bedienende entsprechende Maßnahmen ein.

Welche Fallstricke müssen Nutzer beachten, wenn sie die Potenziale ausschöpfen wollen?

Pascal Bibow

Es ist wichtig, nicht in einen totalitären Ansatz zu verfallen, da nicht alle Daten die gleiche Qualität haben. Die große Herausforderung ist das Datenhandling: Sind die Datensätze konstant, eindeutig zuordbar und verlässlich? Oder habe ich eine fehlerhafte Kalibrierung mitgemessen? Und wie schon erwähnt, ist es mit der Datenerhebung nicht getan; das ist lediglich der Grundbaustein für die Digitalisierung. Zusätzlich braucht es digitale Übermittlungsmethoden und Datenbanklösungen, die mit einer dynamischen Produktion zurechtkommen. Das heißt, dass gleichzeitig beispielsweise tausende Werte übermittelt, verarbeitet, in die richtige Datenbank abgelegt und als Kurvendiagramm dargestellt werden. Zeitgleich müssen diese Daten ausgewertet und Qualitätsentscheidungen getroffen werden – und das von mehreren Maschinen parallel in kürzester Zykluszeit.

Welche Lösungen bieten sich hier an?

Pascal Bibow

Die Echtzeitüberwachung von Maschinen-, Prozess- und Qualitätsparametern erfordert nicht nur moderne Spritzgießmaschinen und -werkzeuge mit einer Vielzahl von Sensoren, sondern vor allem integrierte Prozesslösungen, die relevante Prozessparameter sowohl dokumentieren als auch optimieren. Das Prozessüberwachungssystem ComoNeo von Kistler beispielsweise misst nicht nur präzise den Werkzeuginnendruck, sondern vergleicht die resultierende Messkurve mit der Soll-Kennlinie. Die Produktqualität lässt sich dann mit Hilfe künstlicher Intelligenz vorhersagen. Das leistet ComoNeoPREDICT. Das System prognostiziert die Produktqualität mit höchster Modellgüte aus dem Werkzeuginnendruck. Auf diese Weise lassen sich Ausschuss minimieren sowie Zyklen in schlecht und gut definieren.

Neue Entwicklungen auf Basis von KI sind derzeit in vielen Bereichen sehr präsent. Auf welche Entwicklungen können sich Spritzgießer in Zukunft außerdem freuen?

Pascal Bibow

Auf viele! Spritzgießer werden künftig immer mehr Möglichkeiten haben, automatisiert in Prozesse einzugreifen und diese zu optimieren. Auch in der automatisierten Kalibrierung und im Wartungsprozess wird es Fortschritte geben. Die Fertigung wird immer transparenter und antwortet datenbasiert auf kleinste Zustandsabweichungen. Deshalb der Appell, Mitarbeitende rechtzeitig mit digitalen Kompetenzen auszustatten.

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  • „Bei der Digitalisierung im Spritzgießen ist es wichtig, nicht in einen totalitären Ansatz zu verfallen, sondern relevante Daten zu erheben und zielgerichtet zu analysieren“, findet Pascal Bibow, Produktmanager Digital Solutions Plastics bei Kistler.

    „Bei der Digitalisierung im Spritzgießen ist es wichtig, nicht in einen totalitären Ansatz zu verfallen, sondern relevante Daten zu erheben und zielgerichtet zu analysieren“, findet Pascal Bibow, Produktmanager Digital Solutions Plastics bei Kistler.

    Bild: Kistler

  • Ein digitaler Spritzgießprozess erfordert eine Vielzahl von Sensoren, digitale Übermittlungsmethoden und Datenbanklösungen, die mit einer dynamischen Produktion zurechtkommen.

    Ein digitaler Spritzgießprozess erfordert eine Vielzahl von Sensoren, digitale Übermittlungsmethoden und Datenbanklösungen, die mit einer dynamischen Produktion zurechtkommen.

    Bild: Kistler

  • Die systemübergreifende Software AkvisIO IME von Kistler visualisiert und analysiert hochaufgelöste Daten von Maschinen und Prozessüberwachungssystemen synchron und prozessübergreifend.

    Die systemübergreifende Software AkvisIO IME von Kistler visualisiert und analysiert hochaufgelöste Daten von Maschinen und Prozessüberwachungssystemen synchron und prozessübergreifend.

    Bild: Kistler

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