„Kern unserer Analysen sind soziotechnische Energieszenarien und eine Abschätzung ihrer jeweiligen Auswirkungen hinsichtlich Nachhaltigkeit“, sagt Jürgen Kopfmüller vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des KIT. „Wir möchten der Politik damit gute Entscheidungsgrundlagen anbieten, um unser Energiesystem bis 2045 nachhaltig und klimaneutral umzubauen.“ Der integrative Szenarioansatz werde dabei der Komplexität besser gerecht als viele derzeit diskutierte Szenarien.
Elektrifizierung in den Fokus stellen
Deswegen raten die Autoren, die das Briefing im Helmholtz-Programm „Energy System Design“ (ESD) erarbeitet haben, davon ab, bei künftigen Energieszenarien nur die Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft zugrunde zu legen, da diese schwer vorhersehbar seien. Denn globale Ereignisse wie Konflikte oder die Entwicklung der EU beeinflussen die Zuwanderung und Bevölkerungsentwicklung ebenso wie die Weltmärkte die deutsche Wirtschaft. Je nach Szenario unterscheidet sich der Energiebedarf deshalb erheblich.
„Die Elektrifizierung von Produktions- und Transportprozessen sollte im Zentrum künftiger Strategien stehen. Wir brauchen eine räumliche und zeitliche Flexibilität im Stromsektor, voraussichtlich ergänzt durch den Einsatz von vorwiegend importiertem grünem Wasserstoff“, sagt Professor Patrick Jochem vom DLR-Institut für Vernetzte Energiesysteme. Für die Transformation des Wärmesektors wiederum sei ein Zusammenspiel von energetischer Gebäudesanierung, Energieträgerwechsel und dem Ausbau der Strom- und Wärmenetze nötig.
Als Folge der Elektrifizierung könnte der Strombedarf bis 2045 von derzeit rund 600 TWh auf 1 100 bis 1 300 TWh jährlich steigen. „Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen muss in Deutschland also viel schneller ausgebaut werden“, so Jochem. „In unseren Szenarien sehen wir einen notwendigen Anstieg der installierten Leistung bis 2045 bei Photovoltaik auf 370 bis 435 GW, bei Windkraft an Land auf 210 bis 220 GW und bei Windkraft auf See auf 53 bis 70 GW. Das ist mehr als das Dreifache der heute installierten Leistungen. Durch Aufstockung der bestehenden Anlagen käme das aber nicht einer Vervierfachung der Anlagenbestände gleich.“
Nebenwirkungen und Belastungen mitdenken
Der Ausbau sollte mit dem Aufbau einer Infrastruktur für ein effektives Kohlendioxid-Management flankiert werden, mit der sich Kohlendioxid speichern oder aufbereiten lässt. Denn nach heutigem Stand seien Treibhausgasemissionen vor allem in Landwirtschaft und Industrie auch künftig nicht vollständig vermeidbar, so die Prognose der Autoren. Um den ebenfalls steigenden Bedarf an kritischen Rohstoffen wie Lithium, Kobalt oder Nickel zu decken, brauche es zudem geeignete Strategien, dies umweltverträglich und mit möglichst geringen geopolitischen Risiken zu gestalten.
„Insgesamt steigern die untersuchten Transformationsstrategien die Wertschöpfung im Inland“, betont Dr. Stefan Vögele vom Institute of Climate and Energy Systems – Jülicher Systemanalyse. Arbeitsplätze in energieintensiven Industrien würden vermutlich verlagert, aber nicht zwingend reduziert. „Die Politik muss allerdings Sorge tragen, mögliche zusätzliche Belastungen für Haushalte mit geringem Einkommen zu minimieren – auch, um die Akzeptanz der Energiewende nicht zu gefährden“, so Vögele.