Interview mit Dr. Thomas Steffen, Geschäftsführer Forschung & Entwicklung bei Rittal Erfolgsfaktor Zeit: Automatisierung im Schaltschrankbau

Dr. Thomas Steffen, Geschäftsführer Forschung & Entwicklung bei Rittal.

Bild: Rittal
01.07.2021

Den Schalt- und Steuerungsanlagenbau automatisieren? Das wirft zunächst viele Fragen auf, denn hier ist mancherorts noch viel Handarbeit angesagt. Wie mit Hilfe der Digitalisierung und Automatisierungslösungen ein deutlicher Effizienzgewinn möglich ist und welche nächsten Schritte folgen können, erklärt Dr. Thomas Steffen, Geschäftsführer Forschung & Entwicklung bei Rittal, im Gespräch mit A&D.

Schaltschränke wie der VX25 sind bereits sehr modular und flexibel aufgebaut. Profitiert davon mehr der händische Schaltschrankbau oder auch Ihre automatisierten Lösungen?

Sowohl als auch! Viele Funktionen kommen manuellen und automatisierten Prozessen zugute, beispielsweise das einfache Aushängen der Schaltschranktür, ganz ohne Werkzeug. Hier haben wir viele Features verwirklicht, die unabhängig vom Automatisierungsgrad sind. Andererseits haben wir bei den Montageplatten auf die Möglichkeit einer rückwärtigen Einbringung mit Hilfe von Handhabungstechnik geachtet. Die Verdrahtung im Schaltschrank ist sicherlich die ergonomisch ungünstigste Lösung. Die Montageplatte auf einem Montagetisch automatisiert zu bearbeiten sowie zu bestücken und dann fertig im Schaltschrank zu montieren birgt sehr großes Effizienz-Potenzial, das es zu heben gilt.

Mit Ihren Automatisierungslösungen versprechen Sie eine erhebliche Zeitersparnis. Rittal gibt bei 150 Schränken pro Jahr eine Amortisierung nach 2,5 Jahren an…

… wir können tatsächlich sehr valide nachweisen, dass sich ab 150 Großschränken pro Jahr die Anschaffung unseres automatisierten Fräsbearbeitungscenters Perforex MT lohnt. Damit können Schaltschrankbauer ihre Effizienz um bis zu 85 Prozent gegenüber der manuellen Bearbeitung erhöhen. Und Zeit ist bekanntlich Geld, denn auch im Schaltschrankbau muss zunehmend schnell auf Kundenwünsche reagiert werden. Möglichst kurze Lieferzeiten erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit deutlich.

Automatisierungslösungen müssen aber mit Daten gefüttert werden. Macht sich hier die Digitalisierung des Schaltschranks bezahlt – oder ist es gar Voraussetzung?

Die Digitalisierung spielt eine ganz zentrale Rolle. Hier haben wir schon vor Jahren den Grundstein gelegt, durchgängige Daten vom Engineering bis hin zum fertigen Schaltschrank und darüber hinaus zu haben – also den digitalen Zwilling des Schaltschranks. Bei unserem neuen Bearbeitungscenter Perforex MT beispielsweise zieht die Fertigungssteuerung RiPanel Processing Center automatisch alle Daten und Bearbeitungsschritte aus den mit Eplan Pro Panel erstellten Konstruktionsdaten des Schaltschranks. Natürlich kann die Maschinensoftware auch autark arbeiten oder Daten aus anderen Lösungen einlesen. Der Vorteil eines digitalen Zwillings wird hier bereits ganz klar sichtbar. Wenn der Konstrukteur – auch zusammen mit dem Kunden – cloudbasiert eine Änderung am Schaltschrankdesign vornimmt, führt die Perforex MT diese sofort und automatisch aus.

Lässt sich das erwähnte RiPanel Processing Center von Rittal wie eine Art „Mini-MES“ sehen?

Im Kern ja, denn damit steuern wir unsere ganzen Automatisierungslösungen wie die Perforex MT für die Bearbeitung von Flachteilen, die Secarex für den Zuschnitt von Verdrahtungskanälen, Kabelkanaldeckeln und Tragschienen und den Drahtkonfektioniervollautomaten Wire Terminal MT. Das ist ein Baustein, um möglichst ohne Datenbrüche den Digitalen Zwilling des Schaltschranks zu nutzen: Wenn ich einen Schaltschrank mit Eplan Pro Panel konstruiere, wird zunächst das Schaltschrankgehäuse aus unserem Konfigurator eingelesen, dann alle Komponenten aus dem Eplan Data Portal im standardisierten ECL@SS-Datenformat integriert und auf Plausibilität geprüft. Danach kann das Projekt als Digitaler Zwilling zentral in der Cloud mit festlegbaren Zugriffsrechten gespeichert werden. Darauf greift dann unsere Fertigungssteuerung RiPanel Processing Center zu, welche automatisch die Aufträge an die verfügbaren Automatisierungslösungen weitergibt. Die Maschinen melden dann die Berarbeitungsstati zurück und der Digitale Zwilling wird mit entsprechenden Fertigungsinformationen wie Bearbeitungszeiten angefüttert. Damit lässt sich dann der nächste Schritt im Handling des Schaltschranks durchführen. Als Beschreibungssprache verwenden wir hier das ebenfalls standardisierte AutomationML. So hängen alle Bearbeitungsschritte eines Schaltschranks vom Design bis hin zur Auslieferung und darüber hinaus zusammen, weil ein durchgängiges Datenmodell existiert. Dieser hochwertige Datensatz könnte beim fertigen Schaltschrank auch im Betrieb noch weiter sinnvoll genutzt werden, um zukünftig über den ganzen Lebenszyklus von einem aktuellen Datenmodell zu profitieren, beispielsweise bei der Instandhaltung und Dokumentation beim Austausch von Komponenten.

Kommen wir nochmal zur Mechanik zurück. Mit der aufwendigste Prozess ist die Verdrah-tung. Mit dem Wire Terminal WT ermöglichen Sie die Drahtkonfektionierung eines komplet-ten Schaltschranks automatisch. Sortiert und beschriftet die Maschine die Verdrahtung gleich „handgerecht“ für den Schaltschrankbauer?

Richtig! Die einzelnen konfektionierten Drähte werden in einer definierten Reihenfolge fertig beschriftet abgelegt. Der Schaltschrankbauer greift also immer direkt zum richtigen Draht, der für den nächsten Verdrahtungsschritt benötigt wird. Dabei zeigt die Software Eplan Smart Wiring die exakten Arbeitsschritte an, von wo nach wo der Draht zu verlegen ist. Um einen kleinen Ausblick zu geben, wie wir die Automatisierung weiter vorantreiben: Gemeinsam mit unserem Kunden und Partner Althaus arbeiten wir daran, die fertigen Kabel vom Wire Terminal gleich direkt an die Arbeitsplätze zu transportieren, um mögliche Automatisierungs-Lösungen der Zukunft zu unterstützen. Gerade in der stärkeren Automatisierung der Verdrahtung steckt noch großes Effizienz-Potenzial, das wir nutzen wollen.

Sie erwähnten es bereits, dass kurze Lieferzeiten auch bei Schaltschrankbauern immer entscheidender sind. Wie hilft hier ein digitalisierter Prozess?

Die Steuerungs- und Schaltanlagenbauer sind selten in der Situation, dass ihre Kunden eine Schaltanlage bestellen und das Projekt dann ohne Änderungen einfach abgearbeitet werden kann. Viel realistischer ist, dass im laufenden Prozess der Schaltanlagen-Fertigung noch viele Änderungswünsche von den Kunden kommen. Dieser Trend nimmt mit steigender Komplexität der Anlagen heute zu. Wenn alle Bearbeitungsschritte manuell ausgeführt und die Planänderungen händisch in allen Stufen nachgetragen werden müssen, dann können die Änderungen leicht die Auslieferung verzögern oder zu Fehlern führen. Bei einem durchgängigen digitalen Prozess mit automatisierten Bearbeitungsschritten sieht man bei jedem kleinen Änderungswunsch am Digitalen Zwilling des Schaltschranks sofort die notwendigen Änderungen. Die Maschinen passen dann die Bearbeitungsschritte entsprechend automatisch an und reorganisieren die Abarbeitung. Durch diese Flexibilität lässt sich eine kurze Lieferzeit auch bei nachträglichen Änderungen aufrechterhalten.

Und bei jeder Änderung ändert sich ja auch wieder die digitale Dokumentation automatisch. Fehlerhafte Pläne gehören ja dann auch der Vergangenheit an, oder?

Genau. Das ergibt wieder das große Bild des Digitalen Zwillings für den Schaltschrank. Mit Datendurchgängigkeit entsteht nicht nur ein einzelner Vorteil. Hilft die automatisierte Kette dem Schaltschrankbauer, effizienter fertigen zu können, profitiert der Kunde durch kürzere Lieferzeiten und eine stets aktuelle Dokumentation. Davon könnte der Kunde als Nutzer des Schaltschranks noch weiter profitieren, wenn dieser Datensatz auch im Betrieb aktuell gehalten wird. Damit kann der Digitale Zwilling als Basis dienen, die Wertschöpfungskette um neue Aftermarket-Services zu erweitern.

Was antworten Sie: Warum sollten Schaltschrankbauer auf Rittal setzen?

Weil wir als Hersteller von Schaltschrankkomponenten und Infrastrukturlieferant gemeinsam mit Eplan systemisch entwickeln und nicht nur einzelne Komponenten anbieten. Wir sehen uns in der Rolle, für eine bessere und zukunftsfähige Wettbewerbsfähigkeit unserer Kunden zu sorgen und dieses Potenzial gemeinsam mit unseren Kunden passgenau in ihrem Betrieb auf die Straße zu bringen. Das erfordert Investitionen in die Forschung und Entwicklung und engen Austausch mit unseren Kunden. Das können und wollen wir leisten. Wir unterstützen unsere Kunden im Schaltschrankbau partnerschaftlich vom Engineering über die Automatisierung bis hin zu Cloud-basierten Infrastrukturen.

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