Beim Startschuss für die europäische Energieunion im Februar dieses Jahres wartete die EU-Kommission gleich mit gigantischen Zahlen auf: Europa verliere jährlich 40 Milliarden Euro, weil es keinen verflochtenen Energiemarkt gibt. Weitere Probleme: Die Energiepreise seien doppelt so hoch wie in den USA, die Übertragungsnetze lückenhaft.
Die geplante Union soll die EU künftig besser vernetzen. Ziel ist, etwa beim Strom grenzüberschreitende Leitungen zu bauen, die einen Austausch von etwa zehn Prozent der Produktion möglich machen. Energiekommissar Miguel Arias Canete beziffert die nötigen Aufwendungen für Ausbau und Modernisierung der Energie-Infrastruktur der EU auf insgesamt 200 Milliarden Euro bis 2020. Eine bessere Vernetzung würde nicht nur die Integration von Wind- oder Sonnenenergie vereinfachen, die je nach Wetter starke Überschüsse oder Strommangel verursachen. Bei der Gasversorgung könne so auch die Abhängigkeit von Russland verringert werden, eines der Kernziele der EU.
Es geht darum, 28 europäische Energiemärkte zu einer Einheit zusammenzuschweißen. Die Energieunion soll zudem dem Klimaschutz dienen und Arbeitsplätze und Wachstum schaffen. So weit, so ambitioniert. Doch die Herausforderungen an die Projektplaner der Energieunion sind groß. Das liegt an der höchst ungleichen Verteilung europäischer Energie-Ressourcen. Staaten wie Frankreich, Großbritannien und Ungarn setzen auf Atomstrom, Polen bevorzugt die heimische und klimaschädliche Kohle, Italien Gas aus Russland. Deutschland zelebriert mit den Erneuerbaren die Energiewende und den Abschied von der Atomkraft. Mit Folgen für die angrenzenden Länder: Weht der Wind heftig, wird die Stromüberlast in die Netze der Nachbarstaaten abgeschoben – teils zu sehr niedrigen Marktpreisen.
Diese Versorgungsvielfalt führt zu unterschiedlich gelagerten Interessen. Polen spricht sich wegen seiner Abhängigkeit von der Kohle gegen schärfere Klimaschutzziele aus. Großbritannien fordert, dass CO2-freier Atomstrom subventioniert werden darf – so wie in Deutschland die Solarenergie.
Derzeit muss Europa 55 Prozent seiner Energie importieren, beispielsweise Erdgas aus Russland – und zahlt dafür laut EU-Kommission mehr als eine Milliarde Euro pro Tag. Gas ist ein wichtiges Thema der Energieunion, da Erdgas im Gegensatz zu Sonne oder Wind je nach Bedarf Strom erzeugen kann und zudem nicht so klimaschädlich verbrennt wie Braunkohle. Die Zersplitterung des europäischen Energiemarkts hat es großen Öl- und Gaslieferanten bisher leicht gemacht, die Importabhängigkeiten kleiner EU-Länder monopolartig auszunutzen. Würden sich Einkäufer aus Europa zusammenschließen, könnten sie geschlossener gegenüber Gaslieferanten auftreten, so die Idee.
Die stößt allerdings nicht überall auf Gegenliebe. Die Bundesregierung lehnt diesen Vorschlag ab. Dass eine EU-Behörde künftig Gas für alle 28 Mitgliedsstaaten zentral einkaufe und bei Versorgungsengpässen die betroffenen Länder unterstütze, sei nicht mit der Liberalisierung des europäischen Gasmarktes vereinbar. Auch aus deutschen Unternehmen hört man Skepsis: „Eine angedachte freiwillige Einkaufsgemeinschaft für Erdgas ist kritisch zu sehen, da sie dem Grundprinzip eines liberalisierten Marktes widerspricht“, sagt ein Wingas-Sprecher. Das Gashandelsunternehmen Wingas wurde 1993 von Wintershall und der russischen Gazprom gegründet. „Auch rechtlich stehen hinter dieser Idee einige Fragezeichen. Selbiges gilt auch für die geforderte Offenlegung von privatwirtschaftlichen Gaslieferverträgen mit den jeweiligen Produzenten. Sie betrifft zentrale Geschäftsgeheimnisse von Gashändlern und Gasimporteuren“, so der Sprecher.
Uneinigkeit herrscht auch in anderen Punkten. In Europa macht jedes Land seine eigene Energiepolitik, egal ob es um Marktmodelle, Netzregulierung, Netzplanung oder die Förderungen für erneuerbare Energien geht. So wird in Deutschland die Solarenergie so sehr gestützt, dass der Strom zeitweise andere Märkte überschwemmt. Experten regen an, Solarstrom in südlichen Ländern zu produzieren, wo die Anlagen dauerhaft besser ausgenutzt werden können.
Auch das Thema Kapazitätsmarkt wird kontrovers diskutiert. Dabei handelt es sich um ein System, in dem das bloße Vorhalten der Kapazität konventioneller Kraftwerke vergütet wird. Somit sollen mögliche Versorgungslücken durch die wetterabhängige Ökoenergie gestopft werden. „Auf die Flexibilisierung des Systems abzielende Maßnahmen sind Kapazitätsmärkten eindeutig vorzuziehen“, meint Thomas Benz, Leiter Energiepolitik beim Energie- und Automatisierungstechnikkonzern ABB, „ebenso eine Strompreisbildung auf Basis wettbewerblicher Marktmechanismen.“ Einige europäische Länder wie Großbritannien haben sich bereits für einen Kapazitätsmarkt oder Kapazitätszahlungen entschieden. Frankreich implementiert gerade einen dezentralen Kapazitätsmarkt. Andere Länder setzen weiterhin auf die Optimierung des Strommarkts und sichern diesen durch eine Reserve ab. „Dabei ist nicht sichergestellt, dass die unterschiedlichen Marktmechanismen kompatibel sind“, gibt Benz zu bedenken. „Die von der Europäischen Kommission für Ende 2016 angekündigte Gesetzesinitiative für ein EU-weites Marktdesign muss eine solche Kompatibilität in Aussicht stellen.“ EU-Länder müssten bei der Planung ihrer Stromerzeugung und Systemsicherheit stärker zusammenarbeiten, zunächst auf regionaler und langfristig auf EU-Ebene. „Dies ist auch eine kulturelle Herausforderung, deren Bewältigung aber zu einer kosteneffizienteren Gewährleistung von Energiesicherheit führen wird“, glaubt Benz.
Einige Mitgliedsstaaten haben bereits einen Schritt gemacht und sich im Juni dieses Jahres auf eine Erklärung geeinigt, in der sie erste konkrete Schritte der Zusammenarbeit definiert haben. Insgesamt zwölf europäische Staaten machen künftig gemeinsame Sache, wenn es um den Austausch von Strom geht. So soll die Versorgung gesichert sein, wenn der Strom aus erneuerbaren Energien einmal knapp wird. Laut Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel wurde mit dem Abkommen der zwölf Staaten eine „Zeitenwende in der Energiepolitik“ eingeläutet. Diese Wende sollen auch die Verbraucher spüren – und zwar durch sinkende Preise. Momentan sieht die Lage allerdings nicht so rosig aus: 2016 steigt die EEG-Umlage wieder.
Geht es nach Gabriel, soll es nicht bei den zwölf Ländern bleiben. Er möchte die Versorgungssicherheit „nicht mehr national, sondern europäisch denken“ und hofft, dass das Abkommen auf ganz Europa ausgeweitet wird. Bislang sind neben Deutschland noch folgende Länder mit von der Partie: Frankreich, Österreich, Belgien, Dänemark, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Polen, Schweden, die Schweiz und Tschechien. Zurückhaltend beurteilt ABB-Manager Benz das Vorhaben: „Für eine abschließende Bewertung muss die Erklärung erst um belastbare Maßnahmen und einen Zeitplan zur Implementierung ergänzt werden. Bisher handelt es sich in vielen Bereichen lediglich um Absichtserklärungen.“
Die für den grenzüberschreitenden Stromaustausch erforderlichen Technologien stünden sowohl für Drehstrom als auch für Gleichstrom zur Verfügung, so Benz, warnt aber: „Fehlende gesellschaftliche Akzeptanz könnte große Netzausbauprojekte wesentlich verzögern.“ Das zeigt die aktuelle Diskussion in Deutschland über die Stromtrasse Südlink: Gegen die im Volksmund genannte „Monstertrasse“ machten vor allem die Bayern mobil. Zwar fand sich ein Kompromiss in Form einer unterirdischen Verkabelung. Doch dadurch kommen auf die Stromkunden hierzulande Mehrkosten in Milliarden Euro-Höhe zu.
Voraussetzung für einen gemeinsamen europäischen Energiemarkt seien gut ausgebaute länderübergreifende Verbindungen (Kuppelstellen), damit die 34 angebundenen europäischen Länder von möglichst effizienten Energiequellen profitieren können, heißt es beim Technologiekonzern Siemens. Das Unternehmen hat für den grenzüberschreitenden Energieaustausch die HVDC-Plus-Technik im Portfolio. Sie basiert auf selbstgeführten Stromrichtern in modularer Multilevel-Converter-Bauweise, die Wechselstrom in Gleichstrom und Gleichstrom in Wechselstrom umwandeln.
„Diese Anlagen sind ein zukunftsweisender Weg, wie die Engpässe in den europaweiten Übertragungsnetzen nach und nach beseitigt werden können“, sagt ein Siemens-Sprecher. Im Gegensatz zur netzgeführten Stromrichtertechnik arbeitet das HVDC-Plus-System mit abschaltbaren Leistungstransistoren, so dass die Kommutierungsvorgänge (Übergange eines Stromflusses von einem Zweig in den anderen) im Stromrichter unabhängig von der Netzspannung ablaufen. Die schnellen regelungs- und schutztechnischen Eingriffsmöglichkeiten der Stromrichter bewirken eine hohe Stabilität des Übertragungssystems, was vor allem Netzfehler und Störungen im Drehstromnetz vermindern soll. „Dies erhöht für Energieversorger und Stromkunden gleichermaßen die Versorgungssicherheit deutlich“, so der Sprecher.
Er führt als Beispiel die HVDC-Plus-Verbindung zwischen Frankreich und Spanien an. Mit ihr könne die Energieaustauschkapazität zwischen den beiden Ländern verdoppelt werden. Siemens hat die Leistungsfähigkeit dieser modernen Umrichtertechnik auf 1000 Megawatt (MW) gesteigert. Zudem erhöhe die HGÜ-Verbindung (Hochspannungsgleichstromübertragung) die Versorgungssicherheit und sorge dafür, dass sich weitere erneuerbare Energiequellen integrieren lassen, ohne die Netzstabilität zu gefährden.
Die deutsche Industrie ist für eine Energieunion gewappnet, zahlreiche technologische Lösungen wurden schon entwickelt. Aber ein gesellschaftlicher Konsens liegt noch in weiter Ferne. Wann sich die EU-Mitgliedsstaaten mit konkreten Maßnahmen auf eine übergreifende Vernetzung verständigen – das steht noch in den 28 Sternen.