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Interview mit Nico Mäding, Hilscher „Der einzige Mikrocontroller mit Bewegungssteuerung und RTE“

Hilscher Gesellschaft für Systemautomation mbH

Nico Mäding ist Leiter der Chipentwicklung bei Hilscher.

Bild: Hilscher
19.02.2021

Seit mehr als 15 Jahren ist netX weltweit im Markt erfolgreich. Das Novum der Lösung ist, dass sie mit einer flexiblen Chiparchitektur alle Netzwerke der industriellen Kommunikation bedient. Was die neue netX-Plattform bringt und was sich hinter netMotion verbirgt, verrät Nico Mäding, Leiter der Chipentwicklung bei Hilscher, im Interview.

Dieses Interview ist Teil unserer Titelreportage der Hier geht es zur zugehörigen Titelstory.

Als Kommunikationsspezialist für den Automatisierungsmarkt offeriert Hilscher ein breites Spektrum an unterschiedlichen Netzwerk-Controllern aus der netX-Familie. Was verbirgt sich eigentlich hinter netX?

Die netX-Familie ist eine umfassende Industrie-4.0-Kommunikationsplattform. Sie ermöglicht, alle relevanten Feldbus- und Real-Time-Ethernet-Systeme auf kleinstem Raum abzubilden. Der netX-spezifische Kern besteht aus einer speziellen Switch-Architektur, die wir sehr flexibel programmieren können. Das heißt, man hat eine generische Hardware und eine individuelle Software, die zusammen unterschiedliche Busse, Protokolle oder Real-Time-Ethernet-Dialekte unterstützen. Damit lassen sich vielfältige Applikationen realisieren, die von komplexen Industriesteuerungen mit Echtzeitkommunikation bis hin zur präzisen Antriebssteuerungen mit sehr hohen Anforderungen an Synchronität und sehr geringen Zykluszeiten reicht.

Welche Vorteile bietet die netX-Plattform dem Anwender etwa im Automatisierungsumfeld?

Der Mehrwert, den die netX-Plattform in seiner Breite und Tiefe bietet, ist eine komplette Kommunikationslösung mit Software-Ökosystem für unterschiedlichste Anwendungen der Fabrikautomation. Mit netX als Plattformstrategie entscheiden sich Kunden für eine skalierbare Kommunikationslösung, die in unterschiedlichen Formfaktoren erhältlich ist. Je nach Geräteklasse und Integrationstiefe lässt sich netX nicht nur als SoC beziehen, sondern auch als PC-Karte oder Einsteckmodul in Systeme und Produkte integrieren. Die Vielfalt und Flexibilität der Lösung versetzt unsere Kunden damit in die Lage, ihre Innovationen in möglichst kurzer Zeit auf den Markt zu bringen. Dienstleistungsangebote, rund um das Thema industrielle Kommunikation, von der Beratung bis zur Zertifizierung, runden unser Wertangebot ab. Ebenso setzen Kunden mit netX auf eine sichere Investition, da wir auf Faktoren wie Langzeitverfügbarkeit und stetige Weiterentwicklung großen Wert legen.

netX ist eine Firmware-konfigurierte Kommunikationslösung. Können Sie dies etwas detaillierter erläutern? Welche Vorteile bietet dieser Ansatz?

Was uns auszeichnet und von unseren Kunden geschätzt wird, ist unsere „Alles aus einem Haus“-Philosophie. Das ist natürlich auch der Tatsache geschuldet, dass die Anforderung an die Kommunikation stetig steigt und komplexer wird. Wenn zusätzlich noch eine Protokollzertifizierung für die Vermarktung des Kundengerätes notwendig wird, sind die Ansprüche noch einmal höher. Um Kunden entgegenzukommen, offerieren wir die Kommunikationsfirmware für die unterschiedlichen Protokollstandards als ladbare Firmware (LFW). Diese wird von uns entwickelt, getestet und vorzertifiziert. Die Firmware als fertiges Kompilat in seiner Auslieferung ist hersteller- und geräteneutral, die vom Anwender durch die Konfiguration veredelt und auf den netX aufgespielt wird, um gerätespezifische Parameter festzulegen. Das Interface zur Kommunikationsfirmware in die Hilscher-Welt ist ein standardisiertes Dual-Port Memory (DPM) mit Softwarelayout. Je nach Bausteinvariante und Anwendung kann die Applikation entweder von innen oder von außen auf das DPM über Schnittstellen zugreifen. Um der Applikation die Integration und den Datenaustausch mit der Kommunikationsfirmware zu erleichtern, stellen wir eine Software-API (cifX) für Kunden bereit. Einmal integriert lässt sich damit in wenigen Schritten eine Kommunikation mit einer Maschinensteuerung realisieren, ohne in die Tiefen des Protokolls einzutauchen. Wir unterstützen je nach Anwendung heute bis zu 14 unterschiedliche Protokollstandards als Firmware.

Mit netMotion kündigen Sie neue Bewegungssteuerungsfunktionen für den Multiprotokoll-SoC netX 90 an. Wo soll dieser eingesetzt werden und welche Vorteile bring er dort?

Um zu erklären, wo unsere Lösung eingesetzt werden kann und wo die Vorteile liegen, muss ich kurz ausholen. Die Antriebstechnik für sich umfasst ein sehr breites Produkt- und Anwendungsspektrum. Grundsätzlich lässt sich zwischen dezentralen und zentralen Ansätzen unterscheiden. In dezentralen Systemen wandert ein Teil der Rechenintelligenz der Steuerung für die Bewegungsführung in den Antrieb. Das bedeutet, Sie müssen eine leistungsfähigere Hardware vorhalten, die mehr Bauraum und Kosten beansprucht. Im Falle eines zentralisierten Ansatzes bestimmt die Rechenintelligenz der Steuerung in der Anlage oder Maschine die Bewegungsführung. Die antriebsspezifischen Daten werden synchron bei tiefen Zykluszeiten über echtzeitfähige Steuerungsnetze mit den Antrieben ausgetauscht, womit ein Mehrachsbetrieb möglich wird und sich auf der Antriebsseite kostenoptimierte Lösungen auf begrenzten Raum realisieren lassen. Hier genau liegt der Mehrwert von netMotion. Mithilfe des netX 90 lässt sich die Ansteuerung von Wechselrichtern, Motoren, Drehgebern und so weiter direkt mit einer integrierten multiprotokollfähigen Netzwerkschnittstelle ausstatten. Damit eröffnet sich ein weltweiter Markt und Interoperabilität zu vielfältigen Steuerungsherstellern. Wenn ein Motor erst mal netzwerkfähig ist, sind die Möglichkeiten nahezu grenzenlos. Beispielweise in Anwendungen als Servomotor in Servoantrieben, Elektrozylindern, Servopumpen und vielen mehr.

Real-Time-Ethernet ist integraler Bestandteil ihrer netMotion-Lösungen, was ist das und wozu wird es gebraucht?

Bei der industriellen Kommunikation geht es darum, Daten und Informationen in Echtzeit auszutauschen. In der Fabrikautomation geschieht dies überwiegend in der Steuerungs- und Feldebene. Weil das weitverbreitete Standard-Ethernet nicht den Anforderungen der industriellen Kommunikation genügte, ging daraus letztendlich das Real-Time-Ethernet (auch Industrial Ethernet genannt) hervor. Wobei sich unterschiedliche Ausprägungen entwickelten, um den harten Echtzeitanforderungen gerecht zu werden. Die meisten Real-Time-Ethernet-Standards benötigen eine spezielle IP mit MAC-Erweiterungen, um es den darauf aufbauenden Kommunikationsprotokollen zu ermöglichen, den zyklischen Datenaustauch zwischen Steuerung und Feldgeräteverbund zu planen, zu priorisieren und zu synchronisieren. Die Einhaltung, Pflege und Weiterentwicklung der unterschiedlichen Real-Time Ethernet-Protokollstandards erfolgt durch Nutzerorganisationen. Marktpräferenzen, welche Varianten bevorzugt werden, unterscheiden sich nach Region, Branche und Anwendung. Mit Time-Sensitive-Networking (TSN) betritt gerade eine weitere Variante die Real-Time-Ethernet-Bühne. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Erweiterungen, um Standard-Ethernet unter der IEEE 802.1 und IEEE 802.3 mit Mechanismen zur Übertragung von Daten in Echtzeit auszustatten. Es bleibt spannend, zu sehen, ob sich die Industrie daraus auf ein Mengengerüst für ein Switch-Profil einigen kann oder ob sich unterschiedliche Ausprägungen herausbilden. Wir sind beziehungsweise werden natürlich für alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Warum ist eine SoC-Architektur für die Integration von Real-Time-Lösungen beziehungsweise netMotion die ideale Wahl für anspruchsvolle Industrieanwendungen?

SoC steht im Englischen für System(s)-on-Chip. Wie damit bereits angedeutet vereint die Architektur zwei perfekt aufeinander abgestimmte Mikrocontrollersysteme für harte Echtzeitanforderungen miteinander. Der Vorteil, wenn Software und Hardware aus einem Haus kommen, ist enge Verzahnung beider Disziplinen bereits in der Chipentwicklung. Das Ergebnis ist eine hocheffiziente kompakte Lösung mit reduzierten Anschaltkosten im kleinen Formfaktor. Damit ist der netX 90 die ideale Wahl für überaus anspruchsvolle Anwendungen, wo zum Beispiel Netzwerk, Antrieb und Motor auf begrenzten Raum miteinander verschmelzen. Vereinfacht gesprochen verbirgt sich hinter netMotion ein flexibler softwaredefinierter Produktansatz, um auf Basis einer generischen Hardware die physische Varianz durch Einsparungen zu verringern. Für das Kommunikationssystem bieten wir Firmwarelösungen an, und das Applikationssystem steht unseren Kunden als Entwicklungsplattform wie zum Beispiel für netMotion offen. Wir begleiten das Ganze durch unser stetig wachsendes netX-Ökosystem. Und da es sich um eine Cortex-M4-basierte Mikrocontrollerarchitektur handelt, profitieren unsere Kunden zusätzlich vom etablierten Arm-Ökosystem. Für die Motorreglung von Antriebsystemen haben wir uns einen Spezialisten als Partner an die Seite geholt, der das Dienstleistungsangebot für netMotion vervollständigt – angefangen bei der Simulation bis hin zur Optimierung des Layouts und Schaltverhaltens für thermische Analysen auf begrenzten Raum. Der einwandfreie Betrieb, also ob ein Motor über den vollen Drehzahlbereich hinweg stabil, ruhig und robust läuft, hängt unter anderem davon ab, ob das Drehmoment uneingeschränkt regelbar und die Drehzahl genügend schnell variierbar ist.

Welche beziehungsweise gibt es Alternativen für Bewegungssteuerungen in nahezu Echtzeit? Was sind die Unterschiede zu Ihrer Lösung?

Wir verfolgen natürlich die Entwicklungen am Markt und kennen unsere Marktbegleiter. Schaut man sich in der Breite nach Lösungen um, findet man eine Reihe von Mikrocontrollern unterschiedlichster Hersteller mit Motorkontrollfunktionen, aber ohne Real-Time-Ethernet-Konnektivität. Vereinzelt gibt es Insellösungen, die nur ein Real-Time-Ethernet-Protokoll wie EtherCAT unterstützen und zusätzlich externe Ethernet PHYs benötigen. Man findet auch vermeintliche Lösungen, die mit den Logos der Protokollstandards werben, aber nur eine Teilmenge der Spezifikation erfüllen und womit zum Beispiel ein taktsynchroner Betrieb wie für Profinet IRT nicht möglich ist. Unserer Kenntnis zufolge ist der netX 90 momentan weltweit der einzige Mikrocontroller am Markt mit Bewegungssteuerungsfunktionen der die Vielfalt der Real-Time-Ethernet-Standards in der Breite und Tiefe abdeckt. Darüber hinaus findet man am Markt auch Mikroprozessorlösungen, die wiederum höhere Anschaltkosten und mehr Bauraum beanspruchen, weil sie für höhere Leistungsklassen definiert sind, was den Einsatz für anspruchsvolle Industrieanwendungen auf äußert begrenztem Raum aufgrund der Abwärme extrem erschwert bis nahezu unmöglich macht. Wird eine Multiprotokollunterstützung benötigt, speziell im Bereich Motion, greifen Firmen heute oft auf eine Zweichip-Lösung zurück. In Anwendungen mit höherem Wirkungsgrad zu geringeren Materialkosten möchten wir das mit netMotion ändern. Ferner lässt sich unser netX 90 über das dafür vorgesehene Host-Interface wirksam mit kundenspezifischen Prozessorlösungen kombinieren. Auf diese Art und Weise offerieren wir Kunden eine skalierbare Lösung, die in der Breite über Produktsegmente einsetzbar ist und die Kommunikationsschnittstelle in der Handhabung und Konfiguration vereinheitlicht.

Für Entwicklungszwecke stellt Hilscher Kunden ein Entwicklungskit für netMotion zur Verfügung. Was beinhaltet dieses Kit und wie profitieren Entwickler davon?

Das Entwicklungskit ermöglicht unseren Kunden einen schnellen Einstieg in die Thematik. Das dazugehörige Entwicklungsboard mit integrierten Debugger lässt sich direkt mit unseren netX Studio CDT betreiben. Dabei handelt es sich um eine freie, Eclipse-basierte IDE für die Entwicklung und Konfiguration von netX-basierten Softwareapplikationen. Für unsere Kunden stellen wir Beispielprojekte zur Verfügung, die zeigen, wie man in wenigen Schritten eine Verbindung mit einer Steuerung über das Netzwerk aufbauen kann. Die Kommunikationsfirmware für die unterschiedlichen Real-Time-Ethernet-Protokolle liegen als ladbare Firmware bei, die lediglich konfiguriert und aufgespielt werden muss. Aus Antriebssicht legen wir die Quellen für die feldorientierte Regelung eines Servomotors offen. Anhand vorbereiteter Beispiele, in diesem Fall für ein PMSM mit integrierten Hallsensoren und optionalem Geber, lässt sich die Implementierung auf dem netX 90 schnell nachvollziehen. Für die Entwicklung netzwerkfähiger Drehgeber stellen wir Softwaretreiber als Peripherieschnittstelle für BiSS, EnDAT 2.2 und SSI bereit. Damit schaffen wir den Rahmen, um Kunden den Einstieg zu erleichtern und Entwicklungszeiten zu verkürzen.

Mit welchen technologischen Herausforderungen oder Zielen wird sich Hilscher in den nächsten Monaten auseinandersetzen?

Wir legen unsere Entwicklung nach den Bedürfnissen unserer Kunden und am Markt aus. Wir sind Mitglied in den verschiedenen Nutzerorganisationen und nehmen im Rahmen von Gremien an der Weiterentwicklung der Kommunikationsstandards teil. Darüber hinaus sind wir Gründungsmitglied der Open Industry 4.0 Alliance, die sich interdisziplinär mit der Förderung offener Standards für die Digitalisierung der Industrie einsetzt. Sehr intensiv beschäftigen wir uns momentan mit dem aktuellen Thema Cybersecurity. Das bedeutet, wie kann man im Zeitalter der vernetzen Industrie, speziell in Anlagen und Geräten der Automation, einen wirksameren und nachhaltigeren Schutz vor Cyberangriffen aufbauen – aus Hardware-, aber auch aus Software-Sicht. Auf Chipebene arbeiten wir hierfür unter anderem mit namhaften Partnern wie Arm zusammen. Ein sehr spannendes Thema für uns in der Vorausentwicklung ist auch maschinelles Lernen. Darüber hinaus drängen mit Time Sensitive Networking und Single Pair Ethernet neue Standards auf den Markt. Auch hier sind wir bei Hilscher als Kommunikationsspezialist daran interessiert, von Anfang an dabei zu sein. Aktuell setzt die Industrie im Bereich Real Time Ethernet auf Übertragungsbandbreiten von bis zu 100 Mbit/s. Allerdings deutet sich eine Art Paradigmenwechsel in Richtung Gigabit an. Das stellt auch ganz neue Herausforderungen an unsere Chip-Lösungen. Das Thema netMotion wird uns natürlich auch in der nächsten Generation begleiten.

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