Zimmerweise Temperierung Neuartige Klimaanlage kühlt Häuser ohne Kältemittel

Er ist einer der Köpfe hinter der neuen Klimatechnologie Elastokalorik: Prof. Dr. Paul Motzki, Inhaber der Professur Smarte Materialsysteme für innovative Produktion an der Universität des Saarlandes.

Bild: Sophie Lessure, Universität des Saarlandes
17.07.2024

Die neue Klimatechnik Elastokalorik soll es ermöglichen, Gebäude zimmerweise über Lüftungsschlitze zu kühlen und zu heizen. Dafür transportiert sie Wärme über dünne Drähte oder Bleche, ganz ohne Kältemittel. Das Verfahren zählt bereits jetzt zu den Top Ten Technologies 2024 und wird in Millionenhöhe gefördert.

Auf „visionäre, radikal neue“ Technologien, die Wandel ins Leben bringen können, globale Herausforderungen angehen und neue Märkte schaffen, zielt das Pathfinder-Programm des Europäischen Innovationsrates (European Innovation Council, EIC). Dieser investiert nun vier Millionen Euro in ein Projekt von Prof. Dr. Paul Motzki von der Universität des Saarlandes. Der arbeitet mit seinem Team an der klimaschonenden Kühl- und Heiztechnologie Elastokalorik.

In den nächsten drei Jahren entsteht im Projekt „SMACool“ ein Prototyp einer Klimaanlagen-Einheit für Wohnhäuser. Durch dezente, schmale Lüftungsschlitze in Außenwänden soll Frischluft ins Haus strömen, die je nach Bedarf erwärmt oder gekühlt wird, bis die Wohlfühltemperatur für diesen speziellen Raum erreicht ist. „Wir wollen Häuser mit unserer Technologie nicht mit einer zentralen Anlage beheizen und kühlen, sondern dezentral und individuell jeden einzelnen Raum“, erklärt Motzki. „Hierfür entwickeln wir eine kompakte Einheit, die unsere Technologie enthält und künftig zum Beispiel in neuen Häusern direkt mit dem ohnehin erforderlichen Lüftungssystem eingebaut werden kann.“

Beteiligt sind neben den Saarbrücker Forschern die Universitäten in Ljubljana und Neapel (Federico II) und das Unternehmen Exergyn aus Irland.

Wärmepumpe und Kühlanlage zugleich

Die Technologie könnte mit Blick auf den Klimawandel eine Alternative zu üblichen Kühl- und Heizmethoden werden, die viel Energie verbrauchen und die Umwelt belasten. „Die Elastokalorik funktioniert als Wärmepumpe und Kühlanlage zugleich. Sie ist energieeffizienter und nachhaltiger als heutige Klimatechnik und kommt gänzlich ohne klimaschädliche Kältemittel aus“, sagt Motzki. Der Wirkungsgrad elastokalorischer Materialien belaufe sich auf mehr als das Zehnfache im Vergleich zu heutigen Klima- oder Heizanlagen, sie würden deutlich weniger Strom benötigen. „Mit dem in diesem Projekt geplanten Verfahren erreichen wir beim Kühlen und auch beim Heizen Temperaturdifferenzen jeweils von rund 20 °C.“

Sowohl das Energieministerium der USA als auch die Kommission der Europäischen Union deklarierten die Klimatechnologie bereits als zukunftsträchtigste Alternative zu bisherigen Verfahren. Auch das Weltwirtschaftsforum WEF listet sie in seinen Top Ten Technologies 2024.

Drähte aus Formgedächtnismaterial

Das neue Heiz- und Kühlverfahren beruht auf einem augenscheinlich einfachen Prinzip: Wärme wird aus einem Raum ab- oder in einen Raum hineintransportiert, indem ein Formgedächtnismaterial, etwa als Drähte, belastet, also zum Beispiel gezogen, und wieder entlastet wird. Dabei nimmt das Material Wärme auf und gibt sie wieder ab.

Die Forscher verwenden hierbei die superelastische Legierung Nickel-Titan. Materialien aus dieser Legierung nehmen ihre ursprüngliche Form wieder an, nachdem sie verformt werden. Der Grund: Sie besitzt zwei Kristallgitter – zwei Phasen, die sich ineinander umwandeln können. Während etwa Wasser die Phasen fest, flüssig und gasförmig annimmt, sind beide Phasen von Nickel-Titan fest. Beim Übergang von einer in die andere Phase nehmen die Drähte aber Wärme auf und geben sie wieder ab.

Aufbau auf 15 Jahren Forschung

Das Forschungsteam arbeitet nun daran, die Technologie hinsichtlich Verfahren und Design weiterzuentwickeln, damit sie praxistauglich in Häusern eingebaut werden kann. Die Herausforderung liegt darin, eine Apparatur zu konstruieren, die in einem Kreislaufsystem so funktioniert, dass der beste Kühl- oder Heizeffekt erzielt wird, wenn Luft daran vorbeigeleitet wird.

„Wir werden hier anstelle der Drähte, mit denen wir bislang vor allem gearbeitet haben, um das Verfahren zu entwickeln, dünne Bleche aus Nickel-Titan verwenden, weil diese durch die größere Oberfläche mehr Wärme aufnehmen und abgeben“, erläutert Motzki. Die Forscher können hierbei auf andere Forschungsarbeiten aufbauen: Ihre neue Technologie ist das Ergebnis aus rund 15 Jahren Forschung in mehreren geförderten Forschungsprojekten und Doktorarbeiten.

Prof. Stefan Seelecke, Doktorvater von Motzki, ist Begründer des Themas „Smarte Materialien“ im Saarland. Beide arbeiten eng an der Universität des Saarlandes und am Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (Zema) zusammen. Die Forschungsteams haben bereits unter anderem einen Kühl- und Heizdemonstrator und einen Kühlschrank entwickelt, der kontinuierlich laufen kann und zeigt, wie Elastokalorik Luft kühlt beziehungsweise erwärmt.

Schwerpunkte im Projekt

Zwei Millionen Euro der Fördersumme des EIC Pathfinder Grant fließen in die Forschung und Entwicklung an der Universität des Saarlandes. Die Saarbrücker Ingenieure forschen daran, wie ein Antrieb die Bleche permanent in Gang hält – hier arbeiten sie mit dem Antriebstechniker Matthias Nienhaus und seinem Team an der Universität des Saarlandes zusammen –, wie die Luftströme idealerweise aussehen, welche Form der Nickel-Titan-Bleche am besten geeignet ist, wie stark diese idealerweise für eine bestimmte Kühl- oder Heizleistung belastet und entlastet werden und vieles mehr. Sie haben auch eine Software entwickelt, mit der sie die Heiz- und Kühltechnik für verschiedene Anwendungen anpassen und Kühlsysteme simulieren und planen können.

Zudem wird der komplette Kreislauf von Materialherstellung und Recycling bis zur Produktion erforscht. Am SMACool-Projekt ist auch Triathlon, das integrierte Ökosystem für Entrepreneurship, Innovation und Transfer an der Universität des Saarlandes, beteiligt, das bei Kommunikation, Technologiemanagement und Verwertungsstrategie unterstützt.

Hintergrund zur Formgedächtnistechnologie

Das Forschungsteam für Smarte Materialien unter Seelecke und Motzki nutzt die Formgedächtnistechnologie bereits für verschiedene Anwendungen, vom Robotergreifer bis hin zu Ventilen und Pumpen. An der Technik forschen Doktoranden im Rahmen ihrer Doktorarbeiten und auch Studierende mit. Sie ist Gegenstand von Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und wird in mehreren Forschungsprojekten gefördert, unter anderem von EU und der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG.

Um die Forschungscommunity auf diesem noch recht neuen Forschungsgebiet zusammenzubringen und sie mit Blick auf praktische Umsetzung mit Unternehmen zu vernetzen, haben Seelecke und Motzki die internationale Fachgesellschaft International Elastocaloric Society ins Leben gerufen, die von Saarbrücken aus aufgebaut wird. Um intelligente Materialsysteme in die Industriepraxis zu bringen, wurde zudem die GmbH Mateligent gegründet.

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