Gut gedacht, schlecht gemacht: Neue EU-Fiskalregeln könnten Investitionsschwäche verschärfen

Die EU hat ihre Fiskalregeln reformiert. Ein wichtiges Ziel, das die EU-Kommission dabei erreichen wollte: EU-Staaten sollten größeren Spielraum für Investitionen bekommen.

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16.09.2024

Die EU hat ihre Fiskalregeln reformiert, um den Mitgliedsstaaten mehr Spielraum für Investitionen zu geben. Doch Methodik könnte das Gegenteil bewirken, wodurch Länder wie Frankreich, Italien und Spanien in den kommenden Jahren zu Einsparungen gezwungen wären, was öffentliche Investitionen behindert. Eine Studie des IMK zeigt, dass auch Deutschland betroffen ist und fordert Nachbesserungen bei den Regeln sowie einen speziellen Investitionsfonds.

Die EU hat ihre Fiskalregeln reformiert. Ein wichtiges Ziel, das die EU-Kommission dabei erreichen wollte: EU-Staaten sollten größeren Spielraum für Investitionen bekommen. Tatsächlich aber könnten die neuen Regeln das Gegenteil bewirken, wie sich bereits Ende dieses Monats zeigen dürfte: Einige europäische Länder wie Frankreich, Italien und Spanien könnten in den kommenden Jahren zu erheblichen Einsparungen gezwungen sein.

Das liegt an einer teilweise problematischen Methodik der Regeln. Darunter würden öffentliche Investitionen leiden, die für die Zukunft Europas dringend gebraucht werden. Auch Deutschland ist betroffen – zwar in geringerem Umfang, aber mitten in einer tiefen Investitions- und Wachstumsschwäche. Das zeigt eine neue Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Die Autoren Dr. Christoph Paetz und PD Dr. Sebastian Watzka halten Nachbesserungen bei den EU-Regeln zur Schuldentragfähigkeit und einen speziellen Investitionsfonds für dringend notwendig, um mehr Investitionen zu ermöglichen.

„Es war richtig, dass die EU die Fiskalregeln reformiert hat, weil die alten Regeln wachstumsfeindlich waren. Leider ist die Reform aber nur zum Teil gelungen. Aufgrund technischer Details drohen auch die neuen Regeln zur Wachstumsbremse zu werden, weil Spielräume für öffentliche Investitionen unnötig eingeschränkt werden“, sagt Prof. Dr. Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des IMK, zu den Ergebnissen. „Hier sollte die Europäische Kommission schnell nachbessern. Es ist auch Aufgabe der Bundesregierung, eine solche Korrektur in Brüssel anzumahnen.“

Neue Regelungen

Der alte Stabilitäts- und Wachstumspakt stand lange in der Kritik. Er enthielt zu ehrgeizige Vorgaben für den Schuldenabbau, nicht überprüfbare Zielwerte, wirkte prozyklisch und vernachlässigte die öffentlichen Investitionen. Das wollte die EU-Kommission mit einer Reform der Fiskalregeln ändern. Im neuen Regelwerk, das am 30. April dieses Jahres in Kraft getreten ist, gelten zwar weiterhin die im Maastricht-Vertrag festgelegten Kriterien, wonach maximal 60 Prozent Gesamtverschuldung und drei Prozent jährliche Neuverschuldung zulässig sind. Der Weg zur Erreichung dieser Ziele kann nun aber flexibler gestaltet werden. Sowohl eine länderspezifische Herangehensweise als auch verschiedene Geschwindigkeiten bei der Konsolidierung werden ermöglicht.

Im Mittelpunkt steht dabei eine Schuldentragfähigkeitsanalyse. Auf deren Grundlage müssen Mitgliedsländer der EU-Kommission „nationale mittelfristige Haushaltsstrukturpläne“ vorlegen, die festschreiben, wie viel das Land in den kommenden Jahren ausgeben darf und welche Reformen zur Konsolidierung umgesetzt werden sollen. An die Stelle eines Systems aus zahlreichen Finanzindikatoren tritt die sogenannte Ausgabenregel. Die nationalen Netto-Primärausgaben – also die Staatsausgaben ohne Zinszahlungen, Zahlungen für Arbeitslosengeld und durch Steuererhöhungen gedeckte Mehrausgaben – dienen nun als einziger Indikator zur Überwachung der Einhaltung der Regeln. Anders als etwa vom IMK im Reformprozess gefordert, enthält die Ausgabenregel aber keine Ausnahme für kreditfinanzierte öffentliche Investitionen.

Bis Ende September müssen die Mitgliedstaaten ihre mittelfristigen Pläne vorlegen. Berechnungen des IMK für die vier größten EU-Volkswirtschaften zeigen, dass erhebliche Einsparungen notwendig sein werden. Die zu erwartende Haushaltskonsolidierung liegt für Italien bei bis zu 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Jahr, für Frankreich und Spanien bei 0,9 Prozent und für Deutschland bei 0,1 Prozent. „Es liegt auf der Hand, dass solche fiskalischen Konsolidierungsanstrengungen in den kommenden Jahren den dringend erforderlichen umfangreichen öffentlichen Investitionsprogrammen in der EU im Wege stehen“, schreiben die IMK-Experten Paetz und Watzka.

Schlagseite bei den Alterungskosten

Nach Analyse der Forscher fehlt im neuen Regelwerk nicht nur eine Ausnahme für kreditfinanzierte öffentliche Investitionen. Auch die Schuldentragfähigkeitsanalyse enthalte problematische Punkte, etwa hinsichtlich der Auswirkungen einer alternden Gesellschaft auf die Schuldentragfähigkeit, die allzu einseitig kalkuliert und daher übertrieben würden. Die Alterungskosten machten in den meisten EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2022 zwischen 20 und 30 Prozent des BIP aus und werden in den nächsten Jahrzehnten weiter steigen.

Doch während steigende Kosten etwa für Renten oder das Gesundheitssystem nach den neuen Fiskalregeln vom Primärüberschuss abgezogen werden, bleiben steigende Einnahmen aus Versicherungsbeiträgen oder Steuersystemen unberücksichtigt. Dies sei „kontraintuitiv“, schreiben die Forscher. In vielen Ländern, etwa in Deutschland und Spanien, würden zusätzliche Rentenausgaben per Gesetz durch höhere Beitragssätze gedeckt. Damit seien diese Rentensysteme weitgehend selbstfinanziert. Dadurch, dass nur die Ausgabenseite in die Tragfähigkeitsanalyse einfließt, werde der finanzielle Spielraum stärker eingeengt als nötig. „Die EU-Kommission sollte die Art und Weise, wie die Alterungskosten in der Schuldentragfähigkeitsanalyse berücksichtigt werden, überdenken“, so Paetz und Watzka.

Auch auf Wachstum und Zinsen schauen

Von entscheidender Bedeutung für die Dynamik der Staatsverschuldung ist außerdem das Zins-Wachstums-Differenzial. Bei einem negativen Wert, wenn also der Zinssatz niedriger ist als die Wachstumsrate der Wirtschaft, bleibt die Schuldenquote beherrschbar – man kann sozusagen aus den Schulden herauswachsen. „Aus rein analytischer Sicht besteht kein Grund, sich um die Tragfähigkeit der Verschuldung von Ländern zu sorgen, für die langfristig ein negatives Zins-Wachstums-Differenzial prognostiziert wird“, so die Forscher.

Dies sollte auch bei der Schuldentragfähigkeitsanalyse berücksichtigt werden, zum Beispiel für Frankreich oder Deutschland, wo das Wachstum nach den Prognosen lange Zeit über dem Zinssatz liegen dürfte. Nur wenn der Zinssatz die Wachstumsrate übersteigt, kann es zu einem unkontrolliert schnellen, explosionsartigen Anstieg der Schuldenquote kommen, wenn das Primärdefizit eine bestimmte Schwelle überschreitet. Diese Gefahr besteht beispielsweise im Falle Italiens, aber nicht der anderen großen Länder.

Kleine Änderung, große Wirkung

Die Berechnungen der IMK-Forscher zeigen, dass bereits kleine Veränderungen der Annahmen in der Schuldentragfähigkeitsanalyse spürbare Auswirkungen auf die Staatsfinanzen haben können. Geht man beispielsweise davon aus, dass die Alterungskosten nicht oder neutral in die Schuldentragfähigkeitsanalyse einfließen, so hätte allein Spanien nach dem Abschluss des in den Regeln vorgesehenen Anpassungszeitraums von vier Jahren rund 27 Milliarden Euro jährlich mehr Spielraum. Für Italien und Deutschland lägen die finanziellen Spielräume um gut 14 Milliarden Euro pro Jahr höher. Lägen die Zinsen künftig um einen Prozentpunkt unter den Basisannahmen, würde dies den Spielraum nach vier Jahren für Italien um 16,6 Milliarden Euro, für Frankreich um 14,8 Milliarden Euro, für Deutschland um 11,4 Milliarden Euro und für Spanien um 8,3 Milliarden Euro pro Jahr erhöhen.

Auch wenn die neuen EU-Regeln nicht so drastisch wirkten wie die Sparprogramme in der Eurokrise 2012, könnten sie öffentliche Investitionsprogramme empfindlich einschränken, so Paetz und Watzka. Sie plädieren für eine Anpassung der Fiskalregeln und zusätzlich für die Einrichtung eines EU-weiten schuldenfinanzierten Investitionsfonds.

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