Risikobeurteilung für Industrie 4.0 Schnellere Bewertung mit digitalem Zwilling

TÜV SÜD

Da Industrie-4.0-Produktionsanlagen immer komplexer werden, ist ein neuer Risikomanagementansatz erforderlich. Das von TÜV Süd patentierte Konzept für Adaptive Safety and Security (AS3) bietet eine dynamische Risikobewertung und automatisierte Validierung von Sicherheitsmaßnahmen.

Bild: iStock, ALLVISIONN
15.03.2023

Die Risikobeurteilung modularer und hochkomplexer Produktionsanlagen ist oft zeitaufwendig und kostenintensiv. Auf Basis eines digitalen Zwillings kann die Risikobeurteilung jetzt dynamisch und automatisiert durchgeführt werden – damit die Produktion nach einer Neukonfiguration der Anlage schneller starten kann.

Sponsored Content

Unterbrochene Lieferketten, volatile Märkte und aktuelle wirtschaftliche Herausforderungen steigern den Bedarf an flexiblen Produktionslösungen, um schnell und effizient reagieren zu können. Aber Flexibilität hat ihren Preis: Mit jedem zusätzlichen Anlagenmodul steigt die Komplexität des Gesamtsystems. So sind bereits bei zehn interagierenden Modulen über 3,6 Millionen verschiedene Verschaltungskombinationen möglich. Diese sicherheitstechnisch im Vorfeld zu bewerten, ist mit manuellen Methoden – auch rechnergestützt – kaum möglich. Doch ohne eine Beurteilung der Gefahren und Risiken darf die Produktionsanlage nach einem Umbau, einer Neukonfiguration oder einer wesentlichen Änderung der Betriebsparameter nicht wieder in Betrieb gehen.

Dynamische Risikobeurteilung

Um diesen Prozess zu beschleunigen und gleichzeitig sicher zu gestalten, hat TÜV Süd das Konzept zu „Adaptive Safety and Security System“ (AS3) entwickelt, welches aktuell noch Prototypenstatus hat. AS3 wird, nach Abschluss weiterer Entwicklungstätigkeit, dynamisch potenzielle Risiken bewerten und diese mit geeigneten Safety-Maßnahmen abgleichen. Das geschieht auf Basis eines digitalen Zwillings der Maschine während der virtuellen Inbetriebnahme. Ein Agentensystem ermittelt automatisch, welche der zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen in Frage kommen. Dazu wertet es unter anderem die „Hazard- and Safety Rules“ aus. Diese Regeln beschreiben Fehlermöglichkeiten und Gefahren, verknüpfen diese mit Ereignissen aus Simulationstools und Sensordaten und ermöglichen die Zuordnung von Safety-Maßnahmen.

Predictive Safety

Werden aktuelle Sensordaten aus der realen Produktionsumgebung verwendet, kann das System in der Vision die Safety-Beurteilung auch zur Laufzeit der Anlage erstellen. Potenzielle Gefahrenquellen werden damit bereits vor dem Eintreten sicherheitsrelevanter Ereignisse erkannt und im Sinne einer „Predictive Safety“ rechtzeitig entschärft. Zum Beispiel wenn ein fahrerloses Transportfahrzeug aufgrund der aktuellen Route in eine stark frequentierte Kreuzung fahren würde und als Resultat lange stehen bleiben müsste, so kann eine Vorausschau mit Eingriff in die Planung Abhilfe schaffen.

AS3 bewertet die Sicherheit anhand der aktuellen Daten und der hinterlegten, prüfbaren Regeln und kooperiert in der Vision mit einem Agentensystem, das sich um die Umsetzung der Gefahrenvermeidung kümmert. Um die Gefahr abzuwenden, müssen die Fahrzeuge Befehle automatisch erhalten und ausführen können, um entweder die Geschwindigkeit zu drosseln oder koordiniert die Route zu ändern. Dabei wird durch Vorausberechnung sichergestellt, dass die geänderten Betriebsparameter nicht eine neue Gefahr auslösen.

Praxisbeispiel aus der Logistik

Bei einem Logistiker transportieren Automated Guided Vehicles (AGV) dessen Produkte. Obwohl die Fahrzeuge über Näherungssensoren verfügen, kam es zu einem Zusammenstoß zweier AGV unterschiedlicher Größe. Das kleinere AGV erkannte die Annäherung und stoppte, durch Eingreifen der Funktionalen Sicherheit. Der Näherungssensor des größeren, beladenen AGVs war jedoch so hoch angebracht, dass sich das kleine Fahrzeug unter dessen Sichtlinie befand. Das wäre vermieden worden, wenn der eine Sensor tiefer angebracht gewesen wäre. Bauartbedingt ist dies jedoch nicht immer möglich. Bei geleasten Assets ist ein Umbau zudem aus vertraglichen Gesichtspunkten oft nicht möglich.

Das AS3 von TÜV Süd wird solche Gefahrensituationen durch verschiedene Maßnahmen lösen. Zum Beispiel indem es AGVs unterschiedliche Fahrbereiche zuweist oder schlicht durch die Laufzeitüberwachung ein neues Hindernis, wie das stehende kleinere AGV, erkennt und das größere rechtzeitig abbremsen lässt. Das AS3-Konzept ist dabei so konstruiert, dass weitere Parameter einfließen können und beispielsweise eine Maßnahme gewählt wird, die auch den Verschleiß berücksichtigt.

Security bei Software-Updates

Die dynamische Risikobeurteilung modularer Industrie-4.0-Anlagen berücksichtigt auch die Cybersicherheit. Schließlich sind die einzelnen Anlagenmodule sowohl miteinander als auch in der Regel informationstechnisch vernetzt. Cyberattacken, die Anlagenparameter ändern und Maschinenkomponenten umprogrammieren, können sowohl die Sicherheit der Anlagen selbst als auch der hergestellten Produkte kompromittieren.

Regelmäßige Software-Updates sind essenziell, um mögliche Einfallstore für Cyberangriffe zu schließen. Allerdings können Updates von Einzelkomponenten die Sicherheit des Gesamtsystems beeinflussen und zu einem nicht vorhergesehenen Maschinenverhalten führen. Am realen System herauszufinden, wie sich ein Update auswirkt, ist zeitaufwendig und mit Unsicherheiten behaftet. AS3 kann hier im Rahmen einer virtuellen Inbetriebsetzung mit dem digitalen Zwilling bewerten, ob es durch die Softwareaktualisierungen Wechselwirkungen mit anderen Modulen gibt und liefert belastbare Aussagen zu deren Effekt auf die Maschinensicherheit.

Bildergalerie

  • Simulationsumgebung beim „proof of concept“: AS3 ist ein Bewertungstool, das mit Tools zur virtuellen Produktionsplanung gekoppelt werden kann oder zur Maschinenlaufzeit betrieben wird.

    Simulationsumgebung beim „proof of concept“: AS3 ist ein Bewertungstool, das mit Tools zur virtuellen Produktionsplanung gekoppelt werden kann oder zur Maschinenlaufzeit betrieben wird.

    Bild: TÜV Süd

Firmen zu diesem Artikel
Verwandte Artikel