Chemischer Zufall Click & Try: Chemiker entwickeln neue Reaktion zufällig im Labor

Dr. habil. Hering-Junghans Themengruppenleiter „Katalyse mit phosphorhaltigen Materialien“

Bild: LIKAT/Gohlke
12.11.2024

Ursprünglich war die Entwicklung eines neuen Liganden geplant, quasi der Hülle eines Katalysators Doch im Rahmen einer Promotion entstand stattdessen unerwartet etwas anderes. Am Ende erwies sich der Syntheseweg als neue Form eines etablierten chemischen Prozesses: der Wittig-Reaktion, 1979 mit einem Nobelpreis gewürdigt.

Noch vor Erscheinen der Printausgabe erlangte die Nachricht der Autoren zu ihrem Paper zehntausend Views und wurde mehrfach im Netz geteilt. Kein Wunder. „Die Wittig-Reaktion ist unter Chemikern bekannt wie ein bunter Hund, daran kommt schon im Studium niemand vorbei“, sagt Dr. Hering-Junghans. Sie ist unverzichtbar, um funktionelle Moleküle mit Doppelbindung zwischen Kohlenstoffatomen (C=C) herzustellen. Das sind „allgegenwärtige Strukturmotive“ der organischen Synthese.

Um solche Doppelbindungen ging es auch dem Promovenden: Kushik, einem Chemiker aus Indien, Hauptautor des Papers. Für den neuen Liganden wollte er ursprünglich Phosphor-Kohlenstoff-Doppelbindungen (P=C) in ein Di-Aldehyd einbauen. Kurz ein Exkurs zur Chemie, Klasse 10: Aldehyde sind Moleküle, die eine sog. Aldehydgruppe aus je einem Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatom enthalten. Umfassen Moleküle zwei solcher Gruppen, werden diese als Di-Aldehyd bezeichnet. Mit seiner Reaktion kam Kushik nicht über den ersten Schritt hinaus. Es wurde immer nur eine Aldehyd-Gruppe in die gewünschte P=C-Bindung umgewandelt. Die andere blieb frei.

Störungen haben Vorrang

Wenn in der Forschung alle Aufmerksamkeit auf ein neues Produkt oder Verfahren gerichtet ist, würde man unter solchen Umständen den Reaktionspfad nicht verlassen. Anders in der Grundlagenforschung. Christian Hering-Junghans, einer von Kushiks Doktorvätern, sagt: „Uns fordern solche Störungen auf, ihre Ursache zu erkunden. Sie können zu fundamentalen Erkenntnissen führen.“ So wurde diese Arbeit zu einem Gemeinschaftsprojekt im Themenfeld von Prof. Dr. Torsten Beweries, „Neue Produkte & Verfahren“. Nach gemeinsamer Beratung wich Kushik von seinem Pfad ab.

Hering-Junghans sah in der freibleibenden Aldehydgruppe zum Beispiel eine Chance, neben der P=C-Doppelbindung auch eine Stickstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung (N=C) einzufügen. Dazu nutzte Kushik eine Ableitung der Wittig-Reaktion, und zwar die Aza-Wittig-Reaktion.

Der Plan sah so aus: Ein organisches Azid, zu dessen charakteristischer Struktur drei Stickstoffatome in unterschiedlicher Bindung gehören, und eine Base werden mit dem so hartnäckig freibleibenden Aldehyd zu einer Imin-Einheit umgesetzt, wobei außer dem Einbau der N=C-Doppelbindung auch noch Stickstoff freigesetzt wird.

Das schien zu funktionieren, zumindest deutete die NMR-Spektrometrie den Einbau einer N=C-Doppelbindung an. Als Kushik sein Reaktionsprodukt, orangefarbene Kristalle, zusätzlich im Röntgendiffraktometer überprüfte, zeigte sich Überraschendes. In der Reaktion war statt einer Imin- eine Triazabutadien-Einheit entstanden, was eine völlig andere Substanz ergab. Und zwar auch deshalb, weil gar kein Stickstoff freigesetzt wurde, der verblieb gebunden im Produkt.

Startpunkt der Studie

Die Frage nach dem Warum war der Startpunkt der Studie, deren spektakuläre Erkenntnisse jetzt veröffentlicht wurden. Die Autoren stellen ausführlich dar, wie sie bei ihrem im Grunde zufälligen Vorgehen die etablierte Aza-Wittig-Reaktion abgewandelt hatten. Entstanden ist eine neue Reaktion, in der nicht nur das Azid übertragen wurde, sondern die gesamte Moleküleinheit, mit der das Azid verbunden ist. Als Moleküleinheit entschieden sich die Chemiker für eine Gruppe namens Mes*, „eine sehr raumfüllende Gruppe“, wie Hering-Junghans sagt, „sterisch sehr anspruchsvoll“. Durch ihre Größe schützt Mes* das Azid vor der Abspaltung von Stickstoff (N2) und so ging das Azid komplett in das Produkt ein.

Die beteiligten LIKAT-Chemiker nennen ihren Syntheseweg Azid-Wittig-Reaktion. Erst später erfuhren sie, dass eine solche Reaktion das erste Mal 2019 veröffentlicht wurde. Doch nur als merkwürdiges Resultat, welches nicht weiter systematisch untersucht wurde.

Mit Clickchemie aus der Nische befreit

Über Kushiks Überraschungsprodukt, Triazabutadiene, kurz TBD, wurde 1965 erstmals berichtet. TBDs enthalten Gruppen von Doppelbindungen (N=C, N=N), die untereinander wiederum durch Einfachbindungen verknüpft sind.

TBDs führten lange Zeit ein Nischendasein. Erst 2005 wurde eine allgemeine Syntheseroute für diese Stoffklasse aufgezeigt. Aus zwei Synthesebausteinen, einem organischen Azid und einem N-Heterocylus, konnten die TBDs förmlich „zusammengeklickt“ werden, etwa so wie Lego-Bausteine. Solche TBDs werden unter physiologischen Bedingungen, also im Organismus, nicht so leicht gespalten, weshalb sie sich etwa in der Medizin zur Markierung von Biomolekülen eignen.

Rostocker TBD ohne N-Heterozyklus

Ein limitierender Faktor in der Anwendung war bisher nach den Worten von Dr. Hering-Junghans der N-Heterozyklus, einer der beiden Synthesebausteine in der Struktur der TBDs: „Er blockiert quasi eine Region, an die nichts anderes mehr andocken kann.“ TBD aus dem Rostocker Labor enthalten diesen N-Heterozyklus nicht mehr, sind also auf vorteilhafte Art abgewandelt. Das öffnet dieser Substanzklasse neue Wege zu vielfältigen Anwendungen. Das Team um Dr. Hering-Junghans und Prof. Beweries wird die Azid-Wittig-Reaktion selbst nutzen, um neuartige Liganden zu entwickeln. „Wir finden hier etliche Elemente vor, die sich dafür anbieten, zum Beispiel drei Stickstoffatome, die als Haftatome für das Metallzentrum fungieren können.“

Bildergalerie

  • Kushik, Promotionsstudent bei Dr. habil. Hering-Junghans, stieß durch Zufall auf die neue Azid-Wittig Reaktion

    Kushik, Promotionsstudent bei Dr. habil. Hering-Junghans, stieß durch Zufall auf die neue Azid-Wittig Reaktion

    Bild: LIKAT/ Gohlke

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