Aktive Schutzmechanismen Stabiles Stromnetz auch ohne Großkraftwerke ermöglichen

Durch Europas Netze fließt Wechselstrom, Wind- und Solarkraftwerke hingegen produzieren Gleichstrom, der im Netztakt umgewandelt werden muss.

Bild: iStock, Artur Nichiporenko
17.04.2025

Klassische Großkraftwerke sorgen für einen stabilen Wechselstromtakt im europäischen Stromnetz – doch mit der Umstellung auf dezentrale, Gleichstrom produzierende Stromquellen müssen neue Techniken her. Forschende der ETH Zürich haben nun eine Lösung gefunden, damit Wind- und Solarkraftwerke übernehmen können – und die Energiewende möglich wird.

Europa soll mit erneuerbarer Energie versorgt werden. Der Ausbau der Kapazitäten der Wind- und Solarkraft und die Bereitstellung von genügend Strom im Winter sind nur zwei der Herausforderungen, die sich dabei stellen. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit sind fundamentale Folgen auf das Stromnetz: Während bisher die Generatoren der klassischen Großkraftwerke – der Wasser-, Kohle- und Atomkraftwerke – mit ihrer einfachen und trägen Mechanik das Netz stabil hielten, braucht es nun elektronisch gesteuerte sogenannte Wechselrichter. Diese vor Netzfehlern wie Spannungseinbrüchen und Kurzschlüssen zu schützen, ist nicht einfach. Die Gruppe von Florian Dörfler, Professor für komplexe Regelungssysteme an der ETH Zürich, liefert dafür jetzt eine Lösung.

Dazu muss man wissen: Durch Europas Netze fließt Wechselstrom. Eine Hundertstelsekunde fließt der Strom in die eine Richtung, eine Hundertstelsekunde in die andere. Die Generatoren der Großkraftwerke geben diesen Takt vor, sie sind über das Netz miteinander synchronisiert.

Wind- und Solarkraftwerke hingegen produzieren Gleichstrom. Dieser muss über Wechselrichter in Wechselstrom umgewandelt werden. Die Wechselrichter orientieren sich am Takt des Netzes und speisen ihren Strom synchron dazu ein. Solange genügend große Kraftwerke mit Turbinen am Netz sind, funktioniert das. Wenn aber in Zukunft immer mehr Kohle- und Atomkraftwerke vom Netz gehen, fehlen diese Taktgeber, und es braucht dafür einen Ersatz. „Man kann nur einen Takt übernehmen, wenn auch einer vorgegeben wird“, sagt Dörfler.

Radikaler Schutzmechanismus

In Zukunft sind netzbildende Wechselrichter gefragt, also Wechselrichter, die nicht einfach wie heute einem Takt folgen, sondern aktiv mithelfen, ihn stabil zu halten. Wie solche netzbildenden Wechselrichter bei einem Kurzschluss oder einem Spannungseinbruch im Stromnetz weiterarbeiten und zugleich vor Überlastung geschützt werden können, dafür hatten Ingenieure bisher keine funktionierende Lösung.

Bei den heutigen Wechselrichtern sorgt ein Schutzmechanismus dafür, dass sie sich bei einem Netzfehler vom Netz trennen. Dieser Schutz ist notwendig, da der Wechselrichter bei einem starken Spannungseinbruch im Stromnetz versuchen würde, die fehlende Spannung über eine hohe Stromabgabe ins Netz auszugleichen. Dabei würde er überlastet und innerhalb von Millisekunden irreparabel beschädigt.

Mit neuen Algorithmen für eine intelligente Regelung ist es Dörflers Gruppe nun gelungen, die netzbildenden Wechselrichter auch bei einem Netzfehler weiterzubetreiben. Ein rigoroses Abschalten gibt es damit nicht mehr. Damit kann eine Windkraft- oder Photovoltaikanlage auch bei einem Netzfehler am Netz bleiben, weiterhin Strom liefern und so zur Stabilisierung der Netzfrequenz beitragen. Die Anlage kann so die Rolle übernehmen, die heute den klassischen Großkraftwerken zukommt.

Die Steuerung des Wechselrichters misst kontinuierlich die Netzparameter und passt den Wechselrichter über eine Rückkoppelungsschleife in Echtzeit daran an. Die ETH Zürich hat die neuen Algorithmen zum Patent angemeldet.

Masterarbeiten in der Industrie

Die zündende Idee dazu hatte ein Masterstudent von Dörfler, der mittlerweile an der ETH doktoriert: Maitraya Desai erkannte, dass man bei Netzfehlern die Netzspannung und die Frequenz des Wechselstroms am besten unabhängig voneinander behandelt. Bei einem Netzfehler ist es schwierig, die Spannung zu halten. Der neue Regelalgorithmus konzentriert sich daher auf die Taktfrequenz und versucht, diese unter allen Umständen im Netz stabil zu halten. Dabei begrenzt der Regelalgorithmus den Strom, um eine Überlastung des Wechselrichters zu verhindern, die Spannung lässt er dabei frei schwanken.

Die ETH-Forschenden stellten zunächst Berechnungen an, überprüften diese dann in Computersimulationen und schließlich in einer kleinen Testanlage im Labor. Da es sich um reine Softwareverbesserungen handelt, muss die Industrie keine Demonstrationsanlagen bauen, sondern kann die Algorithmen direkt in ihre Steuerungssoftware übernehmen. Dörfler plant, dazu mit interessierten Industriepartnern eng zusammenzuarbeiten. So sollen unter anderem ETH-Studierende ihre Masterarbeiten in Industrieunternehmen durchführen und dabei helfen, den neuen Ansatz in die Produkte der Industriepartner zu implementieren.

„Wir und andere forschen seit 15 Jahren auf diesem Gebiet“, sagt Dörfler. „Unser Ansatz ist derzeit der beste, um das Problem zu lösen.“ Die neuen Algorithmen tragen zur Stabilität des Stromnetzes bei, verringern das Risiko von Blackouts und ebnen den Weg von zentralen Großkraftwerken hin zu einem dezentralen, flexiblen System kleinerer Kraftwerke, die erneuerbare Energie liefern. Damit könnten sie zu einem entscheidenden Baustein der Energiewende werden.

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