Sucht man derzeit nach dem Stichwort „Medizintechnik“, überstrahlt vor allem ein Thema alle anderen: Siemens bereitet den Börsengang seiner Medizintechnik-Sparte „Healthineers“ vor. Der Konzern bietet am 16. März 15 Prozent der Aktien an der Frankfurter Börse zum Verkauf an: Bei 28 Euro pro Aktie betragen die Erlöse damit 4,2 Milliarden Euro. Die Ausgliederung von Healthineers ist durchaus spektakulär – vor allem angesichts des Wertes der Sparte: Die Siemens-Tochter steigerte ihren Umsatz im vergangenen Geschäftsjahr auf etwa 13,8 Milliarden Euro und war nach der Digital Factory das zweitprofitabelste Unternehmenssegment.
Damit spiegelt Healthineers durchaus das branchenweite Wachstum der Medizintechnik wieder. Nach einem enttäuschenden Jahr 2015, als die weltweiten Umsätze um drei Prozent schrumpften, folgte 2016 wieder eine deutliche Umsatzsteigerung von fünf Prozent auf 364 Milliarden US-Dollar. Das belegt der Medizintechnik Report 2017 der Unternehmensberatung Ernst & Young. Allen voran die Segmente der bildgebenden und therapeutischen Geräte wuchsen stark um rund neun beziehungsweise 13 Prozent. Die positive Entwicklung hält weiterhin an. Laut des im Februar erschienenen Branchenreports Medizintechnologien des Verbands BVMed rechnen 72 Prozent der befragten Unternehmen in diesem Jahr mit höheren Umsätzen auf dem deutschen Markt als 2016. Allerdings schwächt sich die Entwicklung gerade hierzulande etwas ab. Nach einem Umsatzwachstum von vier Prozent im Jahr 2016 beträgt es 2017 laut Angaben der BVMed-Unternehmen nur noch 2,8 Prozent. Höhere Kosten und geringere Preise trüben außerdem die Gewinnaussichten auf dem deutschen Markt etwas ein. Weltweit erwarten die BVMed-Unternehmen hingegen ein Wachstum um 5,9 Prozent.
Paradigmenwechsel
Angesichts der im Allgemeinen sehr positiven Zahlen ist der Börsengang von Siemens Healthineer-Sparte nicht nur für Finanzexperten interessant, sondern wirft auch ein Licht darauf, welche Entwicklungen die Medizintechnik-Branche derzeit umtreiben. Denn letztlich stellt sich auch die Frage, weshalb Siemens ein solch profitables Geschäftsfeld, zumindest teilweise, aus der Hand gibt.
Siemens-Chef Joe Kaeser wies bereits 2004 in einem Interview mit der WirtschaftsWoche auf einen Paradigmenwechsel in der Medizintechnik hin zu einer bedeutenderen Rolle von Molekulardiagnostik und Biotechnologie. „Wir wollen der Sparte Medizintechnik darum mehr Handlungsspielraum geben, etwa auch für mögliche Akquisitionen“, erklärte er damals. Der bevorstehende Börsengang ermöglicht es Healthineers nun, innovative Unternehmen zu erwerben und sich externes Know-how zu sichern – ohne den Mutterkonzern dabei um Finanzmittel bitten zu müssen.
Hintergrund solcher Überlegungen ist die Tatsache, dass sich die Gesundheitsbranche – wie viele andere gesellschaftliche und industrielle Bereiche – ebenfalls wandelt. Die Digitalisierung und Vernetzung hält auch hier Einzug. Insbesondere die Themen künstliche Intelligenz und Datenanalyse, um mit Hilfe von Algorithmen das Erbgut von Menschen und Bakterien zu entschlüsseln, gelten als absolute Trendthemen. Kaeser bezeichnete dem Spiegel gegenüber die Entwicklung als Wechsel von der erfahrens- zur wissensbasierten Medizin. Entsprechend wichtig sind also die Daten, die über Krankheiten, Behandlungsverläufe und von den Patienten gesammelt werden, damit sie anschließend ausgewertet werden können.
Machine Learning
In diesen Bereich drängen mitunter die großen Tech-Konzerne wie Microsoft und Google. Microsoft baut beispielsweise an seinem Forschungsstandort in Cambridge ein Team aus Informatikern auf, die mit Hilfe von Machine Learning Radiologen dabei unterstützen, das Wachstumsverhalten von Krebstumoren besser zu verstehen. Die Google-Tochter Verily Life Science arbeitet an einer Methode, das Herzinfarktrisiko eines Menschen über einen Scan seiner Netzhaut zu berechnen. Hier ist maschinelles Lernen im Einsatz.
Die Medizintechnik-Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ergänzt die zentralen Trends noch um Computerisierung, Miniaturisierung und molekulare Funktionalitäten. Dank modellbasierter Bildverarbeitung lassen sich beispielsweise die Ursachen von Krankheiten leichter und gezielter aufdecken und Therapien besser planen. Auch die Nanotechnologie nimmt eine immer größere Bedeutung ein, darunter etwa In-vitro-Diagnostik, die mit DNA- oder Protein-Chips sowie Lab-on-a-Chip-Systemen arbeitet.
Bislang ist Siemens’ Medizintechnik-Sparte vor allem noch von der Produktion aufwendiger und teurer medizinischer Geräte geprägt. 8,2 Milliarden Euro setzt das Unternehmen allein mit bildgebenden Apparaten wie MRTs und CTs um. Der Bereich der neuartigen OP-Methoden ist dagegen mit 1,5 Milliarden Euro Umsatz vergleichsweise klein. Der Börsengang ermöglicht es Healthineers daher künftig, flexibel auf neue Technologien und Trends zu reagieren. Übernahmen wie der 2016 erfolgte Kauf des Molekulargenetik-Unternehmens Neo New Oncology könnten also schon bald häufiger erfolgen. Die zunehmende Bedeutung von Akquisen spiegelt sich auch im Report von Ernst & Young wieder: Das Volumen von Übernahmen in den USA und Europa erreicht mit 100,4 Milliarden US-Dollar einen neuen Höchststand in der Medizintechnik-Branche und bedeutet eine Zunahme um 46 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Die Notwendigkeit des Börsengangs spricht auch Michael Sen, Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Healthineers, an: „Das ist für Healthineers der nächste logische Schritt und die Grundlage, um unsere starke Position als führender globaler Medizintechnik-Anbieter auszubauen.“ Angesichts der vielversprechenden Zahlen dürfte das Unternehmen jedenfalls gut aufgestellt für die Zukunft sein.