Energy 2.0: Herr Dr. Bock, wie geht denn ein Verfechter der Supraleitung persönlich mit Widerständen um?
Dr. Joachim Bock: Ich versuche, mit Innovationen und neuen Ideen die Grenzen zu verschieben. Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren am Thema Supraleitung, da braucht man eine gewisse Hartnäckigkeit.
Der physikalische Effekt der Supraleitung wurde vor 101 Jahren entdeckt. Stehen wir denn jetzt endlich vor dem Durchbruch, was die technische Nutzung betrifft?
Das denke ich schon; es gibt große Fortschritte. Die Hochtemperatur-Supraleitermaterialien wurden vor 26 Jahren entdeckt. In den neunziger Jahren wurden dann erstmals Verfahren entwickelt, mit denen man die Drähte der ersten Generation fertigen konnte. Die Materialkosten sind bei diesen Drähten aber enorm hoch, da man sehr viel Silber benötigt. Trotzdem werden sie auch heute in Japan noch gefertigt. Bei der mittlerweile verfügbaren zweiten Generation besteht das Trägermaterial aus einem bis zu 100 Mikrometer dicken Metallband. Verwendet werden Stahl oder eine Nickellegierung, die mit einer fünfzig bis hundertfach dünneren supraleitenden Keramik beschichtet ist. Die Flexibilität dieses Drahtes ist für eine Keramik wirklich faszinierend, man kann ihn sogar ohne Probleme aufrollen.
Welche Materialien werden denn heute für den Supraleiter selbst eingesetzt?
Für industrielle Anwendungen sind heute nur zwei Materialklassen relevant: „BiSCCO“, also Bismut-Strontium-Calcium-Kupferoxid, und „YBCO“, Yttrium-Barium-Kupferoxid. Es werden allerdings immer wieder neue Materialien entdeckt, zum Beispiel Magnesiumdiborid (MgB 2), eigentlich eine bekannte Substanz, doch erst 2001 merkte man, dass es bei 39 Kelvin ebenfalls supraleitend ist. Dieses Material ist sehr, sehr günstig und wird bereits für Kernspintomographen eingesetzt.
Wenn Sie von industriellen Anwendungen reden: Ist Supraleitung denn heute schon wettbewerbsfähig?
Man muss unterscheiden zwischen Anwendungen, die eine Verbesserung der klassischen Elektrotechnik wie Kabel oder Generator darstellen, und solchen, zu denen es kein direktes konventionelles Gegenstück gibt. Das ist zum Beispiel bei Strombegrenzern der Fall, deshalb werden dort auch die ersten kommerziellen Anwendungen zu finden sein.
Bislang kamen Stromnetze auch ohne diese Begrenzer aus - warum sollte sich das ändern?
Strombegrenzer haben die Funktion, große Kurzschlussströme kurzfristig aufzufangen. Dies ist möglich, weil oberhalb einer definierten Stromdichte der Supraleiter gar nicht mehr leitet, sondern einen starken Widerstand darstellt. Die entstehende Wärme kann dann für kurze Zeit vom Supraleiter absorbiert und an das Kühlmittel - den flüssigen Stickstoff - abgegeben werden. Dieser Übergang ist reversibel, der Supraleiter braucht lediglich einige Zeit, um wieder auf seine Betriebstemperatur abgekühlt zu werden. Im Gegensatz zu konventionellen Sprengsicherungen benötigt man auch keinen externen Trigger in Form einer elektronischen Ansteuerung. Das Material überwacht sich sozusagen selbst und ist absolut fehlersicher: Wenn der Supraleiter nicht funktioniert, ist er ein elektrischer Widerstand.
Aber Sprengsicherungen werden doch heute auch nicht laufend ausgelöst.
Heutige Netze werden überdimensioniert, damit sie bei einem Kurzschluss nicht sofort zerstört werden. Das kostet viel Geld. Mit diesem neuen Werkzeug steht erstmals eine Möglichkeit zur Verfügung, um bei weiter steigenden Kurzschlussströmen den Kurzschlussstrom auf ein Niveau zu begrenzen, dass man eine Anlage mit hohem Strom-Eigenbedarf überhaupt mit klassischen Schaltern beherrschen kann. Daher haben wir jetzt schon mehrere Projekte abgeschlossen, die rein kommerziell waren, also ohne Fördermittel ausgekommen sind.
Da dürfte es für Sie von Vorteil sein, dass die Netze nach der Energiewende beständig an der Kapazitätsgrenze arbeiten.
Gerade bei der Anbindung der Erneuerbaren, zum Beispiel bei den Windparks, könnte man durch Strombegrenzer erheblich sparen, da man dann auch größere Anlagen direkt auf der 10-kV-Ebene einspeisen lassen kann. Grundsätzlich erhöht die Umstellung auf ein Netz, in dem von vielen Punkten aus eingespeist wird, die Kurzschlussleistung. Auch das spricht für den Strombegrenzer.
Wo ist denn bei den „klassischen“ Anwendungen wie Kabel und Generatoren die Supraleitung heute schon wettbewerbsfähig?
Für die Generatoren hat das Siemens intensiv untersucht und herausgefunden, dass zunächst vor allem Insellösungen wie Schiffsantriebe interessant sind. Untersuchungen anderer Firmen zeigen, dass immer da, wo Bauraum sehr knapp ist und Gewicht gespart werden muss - etwa beim Nachrüsten von Wasserkraftwerken - die Supraleitung eine wirtschaftliche Lösung darstellen kann, um die Leistungsdichte deutlich zu steigern. So stößt man auch bei den großen Windkraftgeneratoren zunehmend an logistische und technologische Grenzen. Dazu gibt es jetzt in den USA erste Projekte.
Über welche Kostenunterschiede zu einer klassischen Kupferverkabelung reden wir denn heute?
Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Je nach den baulichen Voraussetzungen reden wir über einen Faktor drei bis vier, was das Kabel selbst betrifft.
Das heißt, sie brauchen andere Vorteile, um die Mehrkosten wettzumachen.
Wenn man eine einfache Punkt-zu-Punkt-Verbindung betrachtet, wird es schwierig, in absehbarer Zeit Kostenneutralität zu erreichen. Bei unserem Pilotprojekt „AmpaCity“ in Essen können wir zeigen, dass die Bilanz durchaus positiv ausfallen kann, wenn man das gesamte Netz einbezieht. So entfallen beispielsweise die Kosten für Umspannstationen, das ganze Netz wird schlanker und effizienter. Die Mittelspannung mit Supraleitung ist in dieser Bilanz kostengünstiger als die Hochspannungsverkabelung auf der 110-kV-Ebene.
Hinzukommen die gewonnen Flächen für die Umspannstationen.
Die haben wir in der Kostenbilanz nicht einmal betrachtet, aber natürlich können zentrumsnahe freie Flächen einen großen Wert darstellen. In Summe kann man sagen: Supraleitende Kabel sind dort sinnvoll, wo man wenig Platz hat und große Leistungen transportieren will. Nicht zu vernachlässigen: So ein Kabel generiert keinerlei elektromagnetisches Feld nach außen. So kann man einen Fluss beispielsweise queren, indem man das Kabel einfach unterhalb der Brücke verlegt.
Gibt es denn jenseits des Pilotprojektes in Essen Interesse in anderen Regionen?
Anfragen nach generellen Informationen kommen von überall her, teils sollen wir auch konkrete Probleme lösen. Es dauert aber natürlich eine Weile, bis daraus Aufträge werden, aber das Interesse ist so groß, dass ich davon überzeugt bin, dass die Technik sich durchsetzt.
Die Weltproduktion für supraleitende Drähte ist derzeit allerdings recht gering.
Momentan werden weltweit pro Jahr rund 2000 Kilometer Draht gefertigt.
Das reicht für zehn Kilometer Kabel.
Im Hochspannungsbereich ja, im Mittelspannungsbereich für vielleicht 25 Kilometer. Aber das wird sich ändern. Es treten zunehmend neue Hersteller am Markt auf, in Japan, in den USA und in Deutschland, irgendwann sogar in China.
Wie viel höher sind die Stromdichten, die Sie in der Praxis heute erzielen können?
Bei supraleitenden Kabeln macht der Leiter ja den geringsten Anteil am Bauraumbedarf aus, der Löwenanteil entfällt auf die Isolier- und Kühlschichten. Als Faustregel gilt, dass man bei gleichem Querschnitt die fünf- bis zehnfache Strommenge durch das Kabel schicken kann.
Wie sieht denn die Energiebilanz aus, wenn Sie die Verluste für die Stickstoffkühlung einbeziehen?
Auf einer Strecke von einem Kilometer hat man eine Temperaturdifferenz von Einlauf zu Auslauf von ungefähr vier Kelvin. Rückgekühlt wird der Stickstoff in Essen übrigens nicht mit einer Kühlmaschine, wir füllen ihn aus einem Tank nach - das ist heutzutage die robustere und preisgünstigere Lösung. Man darf nicht vergessen, dass Stickstoff eine kostengünstige Basischemikalie ist, die bei der Reinsauerstoffproduktion oft übrig bleibt. Es gibt aber auch Initiativen, die benötigten Kühler in Leistungsklassen von 500 Watt bis ein Kilowatt zu entwickeln. Beim Effizienzvergleich mit klassischem Mittelspannungs-Erdkabel ist überdies zu beachten: Im Essen herrscht im Kabel eine Stromstärke von mehr als zwei Kiloampere, da müsste man fünf Kabel parallel verlegen - mit deutlich höheren Transportverlusten.
Wie weit lässt sich denn ein System wie das in Essen skalieren? Ein Kilometer ist ja für die Innenstädte von Wachstumsmetropolen wie Shanghai kein Maßstab.
Das lässt sich auf jeden Fall skalieren. Bei einem Wechselspannungskabel brauchen wir alle fünf bis zehn Kilometer eine Kühlstation, bei Gleichstrom mit geringeren Verlusten wäre der Abstand entsprechend größer - machbar ist das aber auf jeden Fall.
Ende 2013 soll AmpaCity in Betrieb gehen - bleibt es dabei?
Ja, das alles ist auf einem guten Weg.
Gilt das auch insgesamt für die Position Deutschlands bei der Supraleitung, wo die materialwissenschaftlichen Impulse doch meist aus den USA kommen?
Deutschland hat eine führende Position bei den Anwendungen. Was die Drähte der zweiten Generation betrifft, so kommen diese derzeit aus Japan oder den USA. Aber da sind wir dabei aufzuholen.
Das Interview führte Johannes Winterhagen, Energy 2.0.