Netzausbau im Fokus Energiewende mit Tempo

Überall, wo die Faktoren steigende Einwohnerzahlen, Umstieg auf Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen zusammenkommen, steigt die Nachfrage nach elektrischem Strom stark an. Ein Wachstum auf diese Art und Weise wurde in der Netzplanung der vergangenen Jahre und Jahrzehnte nicht oder nur unzureichend berücksichtigt.

Bild: Eaton; iStock, Paul Bradbury
09.09.2024

Die Erzeugung von mehr grünem Strom ist entscheidend für die Energiewende – ohne Frage. Doch die Energie muss nicht nur erzeugt werden, sie muss auch beim Verbraucher ankommen. Daran hapert es offenbar in immer mehr Fällen. Dirk Kaisers, Segment Leader Distributed Energy EMEA von Eaton untersucht im Reality Check, ob unzureichende Übertragungskapazitäten hierzulande die Energiewende in Verzug oder gar in Gefahr bringen können.

Im Frühjahr machte die Stadt Oranienburg Schlagzeilen, da dort keine Neukunden mehr an das örtliche Stromnetz angeschlossen werden konnten. Laut den zuständigen Stadtwerken gab es keine ausreichenden Kapazitäten für Neuanschlüsse oder Kapazitätserhöhungen von Hausanschlüssen. Eine entsprechende Anfrage der Stadtwerke bei den vorgelagerten Übertragungsnetzbetreibern sei abgelehnt worden.

Drohen überall ähnliche Szenarien?

Auch wenn das Problem in Oranienburg mittlerweile behoben ist, lässt sich nicht ganz ausschließen, dass es in anderen Kommunen nicht zu ähnlichen Problemen kommen kann. Überall, wo die Faktoren steigende Einwohnerzahlen, Umstieg auf Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen zusammenkommen, steigt die Nachfrage nach elektrischem Strom stark an. Ein Wachstum auf diese Art und Weise wurde in der Netzplanung der vergangenen Jahre und Jahrzehnte nicht oder nur unzureichend berücksichtigt.

Neben Privatverbrauchern treibt vor allem auch die Industrie den Gesamtstrombedarf in die Höhe. Thermische Prozesse sollen von fossilen Energieträgern unabhängiger werden und überall wo Hitze mit elektrischem Strom erzeugt wird, wird viel Energie verbraucht. Als große Treiber gelten auch Rechenzentren, für die bereits vielerorts ein Ansiedlungsstopp verfügt wurde, um die örtlichen Netze nicht zu überlasten.

Wie wird sich der Bedarf zukünftig entwickeln?

Daran, dass die Nachfrage nach elektrischem Strom auch zukünftig steigen wird, gibt es praktisch keine Zweifel. Eine Studie aus dem Jahr 2021 prognostizierte beispielsweise die Steigerung von 595 TWh im Jahr 2018 auf 658 TWh im Jahr 2030 (plus 11 Prozent). Die deutschen Netzbetreiber gingen in einer Mitteilung vom vergangenen Jahr von einer Verdopplung bis 2045 aus.

Angesichts dieser Herausforderung muss nicht nur die erneuerbare Energieerzeugung massiv ausgebaut werden, sondern auch die Übertragungskapazitäten. Doch dabei gibt es – gerade wenn es um große Strecken geht – immer wieder Hindernisse. Der Bau der großen Stromtrasse SuedLink verzögert sich beispielsweise um mehrere Jahre. Ursprünglich sollte sie dieses Jahr fertiggestellt werden, was sich aber nun bis mindestens 2028 verzögert. Um den steigenden Bedarf zu decken, müssen Ausbauvorhaben wesentlich schneller als bisher realisiert werden.

Netzstruktur und die modernen Anforderungen

Da sich die Art der Stromerzeugung durch die Energiewende grundlegend wandelt, sollte auch der Aufbau der Netze überdacht werden. Eine Herausforderung dabei ist, dass sich Mammutprojekte wie die großen Stromtrassen noch mit der alten Logik der Stromnetze decken. In einer Baumstruktur fließt die elektrische Energie dort von zentralen Erzeugern zu den Abnehmern in der Fläche.

Ideal ist das nicht, da beim Stromtransport über lange Strecken immer Verluste auftreten, in Zeiten der thermischen Großkraftwerke gab es aber keine andere Möglichkeit. Durch erneuerbare Energien wird die Erzeugung allerdings wesentlich dezentraler. Immer mehr Haushalte und Unternehmen erzeugen selbst Strom und werden dadurch von reinen Verbrauchern zu sogenannten Prosumern (producer plus consumer). Im Juni 2023 waren in Deutschland 2,6 Millionen Fotovoltaikanlagen installiert, was einem Wachstum von 16 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat entspricht. Für diese Situation ist das bisherige Stromnetz nicht ausgelegt.

Zukünftig werden Netze benötigt, die bidirektional ausgelegt sind und die Verteilung auf lokaler Ebene optimieren können, sodass lokal erzeugter Strom auch möglichst lokal verbraucht werden kann. Dieses Netz weist dann eine zellulare Struktur statt der alten Baumstruktur auf. Die einzelnen Energiezellen arbeiten möglichst autark, vereinen Energieerzeugung, Verteilung und Abgabe (etwa durch E-Auto-Ladestationen), können aber auch untereinander und mit dem Gesamtnetz interagieren, um großflächigere Unterschiede in Angebot und Nachfrage auszugleichen. Dabei spielen auch Übertragungsleitungen vom windreichen Norden in den Süden eine sehr wichtige Rolle.

Doch man sollte nicht vergessen, dass die Energiewende nicht allein durch derartige Großprojekte getragen wird, sondern vor allem auch auf lokaler Ebene stattfinden muss. Viele kleine Projekte lassen sich in der Regel schneller umsetzen als wenige Großprojekte. Haushalte und Unternehmen, die auf eigene Energieerzeugung und Speicherung setzen, gewinnen damit auch ein Stück Unabhängigkeit gegenüber dem Netz.

Fazit

Dass die Energieversorgung in Deutschland in näherer Zukunft in Gefahr ist, ist sehr unwahrscheinlich. Lokale Probleme wie in Oranienburg könnten sich allerdings durchaus häufen, wenn verstärkte Nachfrage auf unzureichende Infrastruktur trifft. Zukünftig sollte bei Neubauprojekten immer auch die lokale Energieinfrastruktur bedacht werden und Erzeugung sowie Speicherung von Strom zu wesentlichen Komponenten in der Planung werden.

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  • Dirk Kaisers, Segment Leader Distributed Energy EMEA von Eaton

    Dirk Kaisers, Segment Leader Distributed Energy EMEA von Eaton

    Bild: Eaton

  • Um den steigenden Strombedarf zu decken, müssen Ausbauvorhaben schneller realisiert werden.

    Um den steigenden Strombedarf zu decken, müssen Ausbauvorhaben schneller realisiert werden.

    Bild: iStock, Roman Mykhalchuk

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