Die Aufgabenstellung für ihre Masterarbeit klang zunächst unlösbar: Katrin Lück sollte für eine noch original aufgerollte antike Bleirolle eine präventive konservatorische Methode entwickeln, bei der die Rolle ohne zerstörerisches Entrollen in seiner Ursprungsform für die Zukunft gesichert wird. Zugleich aber sollte ihr für die Forschung hoch bedeutsamer Inhalt der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht werden. "Ein Restaurator muss immer Anwalt des Objekts sein", so Katrin Lück. Ein Abrollen des zerbröselnden spröden Bleis wollte sie daher mit modernsten Mitteln verhindern. Um zerstörungsfrei an die im Innern verborgenen Schriftzeichen zu kommen, lag die Verwendung von Röntgen-Computertomographie nahe. Doch schnell tauchten neue Probleme auf: Gerade weil Blei Röntgenstrahlung extrem gut absorbiert, wird es bei Tomographen zur Abschirmung der Schutzkabine verwendet. Als Untersuchungsobjekt ist es aufgrund seiner schweren Durchstrahlbarkeit dagegen eine Herausforderung, an der die meisten CT-Systeme scheitern. Bemerkenswert war zudem die Tatsache, dass es den antiken mesopotamischen Handwerkern gelungen ist, die Schriftrolle aus etwa 99,5-prozentigem hochreinem Blei herzustellen. So trug ihre hohe metallurgische Perfektion eineinhalb Jahrtausende später mit dazu bei, die Entschlüsselung ihres Rätsels zusätzlich zu erschweren.
Da die weit verbreiteten medizinischen Tomographen keine hohe Spannung erzeugen und bei einer 3D-Auflösung von ca. einem halben Millimeter die feinen, mit einer spitzen Nadel nur etwa 30 Mikrometer tief in das Blei geritzten Schriftzeichen nicht hätten auflösen können, konnte nur hochauflösende industrielle Mikrofokus-CT weiterhelfen. Da bei derartigen CT-Systemen die Probe bis dicht vor den Brennfleck der Röntgenröhre gefahren wird, kann mit ihrer Hilfe ein geometrisch stark vergrößertes Röntgen-Durchstrahlungsbild auf den Digitaldetektor geworfen werden. Nur ein an die gewünschte Auflösung angepasster mikrometergroßer Brennfleck gewährleistet dabei scharfe Röntgenbilder auch bei hohen Vergrößerungen. Durch Rotation des Objekts entstehen Hunderte solcher 2D-Projektionsbilder. Sie werden dann zu einem 3D-Volumen rekonstruiert, in dem ein spezifischer Grauwert für jedes Volumenpixel (Voxel) Rückschlüsse auf das jeweilige Material und seine Dichte erlaubt. Eine hohe Röntgenabsorption an einem bestimmten Punkt steht somit für Blei, eine sehr geringe für die Luft in den feinen Ritzen. Doch alle um Hilfe gebetenen Forschungsinstitutionen, die industrielle CT-Systeme betreiben, konnten im Falle der Bleirolle nicht weiter helfen.
3D-Scan mit Mikrofokus-CT
Erst wenige Wochen vor dem Abgabetermin ihrer Masterarbeit wurde Katrin Lück auf GE Sensing & Inspection Technologies in Wunstorf aufmerksam. Als eines der führenden industriellen CT-Unternehmen weltweit wurde dort vor kurzem die erste unipolare 300-kV-Mikrofokus-Röntgenröhre entwickelt. Integriert in ein Phoenix-v|tome|x-CT-System bietet sie aufgrund ihrer unipolaren Bauart besonders hohe geometrische Vergrößerungen. Erstmals erreicht ein 300-kV-Mikrofokus-CT-System eine Detailerkennbarkeit von bis zu weniger als einem Mikrometer und somit die erforderliche Auflösung für die Aufgabe. Wenige Wochen vor dem Abgabetermin kam so die Hoffnung auf, dass die hohe Spannung von bis zu 300 Kilovolt für einen CT-Scan der hoch absorbierenden Rolle ausreichen könne. Bei einem Besuch von Katrin Lück im Wunstorfer GE-Applikationszentrum zeigte sich, dass die Bleirolle bei 290 kV tatsächlich durchstrahlt werden konnte. Da das spröde Blei in den vielen Jahrhunderten bereits diverse Risse und Brüche erlitten hatte und außen auch bereits ein paar Zeilen unwiederbringlich abgebrochen waren, wurde die Rolle sicher in Papier gewickelt und im Phoenix v|tome|x 300 vor der Mikrofokus-Röntgenröhre auf einem Drehtisch fixiert. Der eigentliche CT-Scan dauerte in dem Tomographen nur etwa 50 Minuten. Das aus der Serie von 1.200 aufgenommenen 2D-Röntgendurchstrahlungsbildern rekonstruierte 3D-Volumen erlaubte es bei einer Voxelgröße von lediglich 22 Mikrometern tatsächlich, die mandäischen Schriftzeichen in den äußeren, nicht so stark korrodierten Windungen im Innern der Rolle sichtbar zu machen.
Software entrollt Bleirolle digital
Um die Schrift auch tatsächlich lesbar zu machen, war es notwendig, das 3D-Volumen der gescannten Bleirolle virtuell zu entrollen. Doch selbst die marktführende 3D-Datenanalysesoftware VGStudio MAX ermöglichte bisher nur das Anlegen virtueller Schnitte. Doch auch hier war nach eineinhalb Jahrtausenden die technologische Entwicklung so weit, selbst dieses Problem zu lösen: Auf der Control 2011 hatte das Heidelberger Softwareunternehmen Volume Graphics in seiner VGStudio MAX 2.2 Version erstmals ein Werkzeug vorgestellt, mit dem nicht-lineare Oberflächen wie Kugeln oder Zylinder in einem planaren Bild dargestellt werden können. Allerdings sah das neue Werkzeug nur die virtuelle Abrollung entlang einer vom Benutzer definierten Linie vor, was bei geometrischen Technikobjekten völlig ausreicht. Die antike Bleirolle war jedoch sehr komplex deformiert. Um das Entziffern und Übersetzen der uralten Botschaft im Kontext zu ermöglichen, erweiterte das Team von Volume Graphics die Funktionalität um eine weitere Dimension: Nun kann aus Punkten eine beliebig geformte Fläche definiert werden, um auch derart komplexe Objekte wie eine aufgerollte und deformierte Bleiplatte planar darzustellen. Auf diese Weise gelang es, im Innern der Rolle insgesamt 41 Schriftzeilen erkennbar zu machen - Spuren einer uralten Kultur, die dank modernster Software nun erstmals wieder in einem Stück sichtbar sind.
Einblicke in eine mystische Vergangenheit
Schriftzeichen zu visualisieren ist das eine, sie zu verstehen das andere. Die Bleischriftrolle wurde auf mandäisch beschrieben, einem östlichen Dialekt des Aramäischen. Wenige Personen, vor allem im heutigen Irak, sprechen noch mandäisch, doch geben sie die Geheimnisse ihrer Kultur und Religion kaum preis. So kommt es, dass die mandäische Sprache kaum erforscht und ihre wenigen überlieferten Schriften kaum entziffert sind - in Deutschland beispielsweise gibt es nur eine Expertin, die mandäische Texte zu übersetzen versteht.
Die bereits bekannten Rollentexte enthalten meistens Beschwörungsformeln und Zaubersprüche zur Abwehr gegen böse Geister, Krankheiten oder Liebeskummer. Der Expertin gelang es nicht nur, die Entstehung der Rolle in das 5. Jahrhundert n. Chr. zu datieren, sondern sie auch zu übersetzen: Wenige Tage, bevor die Untersuchungsergebnisse auf dem 7. GE-X-ray-Forum in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert werden sollten, lüftete ihre Übersetzung das antike Geheimnis der Rolle: Es handelt sich um eine Beschwörungsformel mit mandäisch gnostischen Elementen für Dašnaya, Tochter der Mahanuš, in der unter anderem von Feuer, verborgenen Lichtern, Dämonen und der "Zauberei des Sarnabu" die Rede ist.
Glücksfall für Restauratoren und Wissenschaftler
Noch vor ein paar Jahren wäre die nun tomographierte Bleirolle vermutlich wie die meisten anderen, seit dem 19. Jahrhundert in Familienarchiven und Gräbern entdeckten mandäischen Bleirollen im Namen der Wissenschaft entrollt und damit zerstört worden. Im Nachhinein erscheint es als ein unglaublicher Glücksfall, dass die Aufgabenstellung zur restauratorischen Erhaltung des antiken Objekts just zu dem Zeitpunkt erteilt wurde, als seit ein paar Monaten die entsprechenden technischen Lösungsansätze entwickelt waren.
Es wird angenommen, dass die mandäischen Schriftrollen meist in einem Amulett verwahrt und möglicherweise getragen wurden. Die mittels CT untersuchte Rolle beispielsweise befand sich ursprünglich in einem Bronzeamulett. "Aus religionsethischer Sicht ist es offensichtlich, dass die Rollen nicht dazu bestimmt waren, jemals wieder gelesen zu werden. In den Augen der antiken mandäischen Priester wäre die bisherige Praxis des Entrollens ihrer magischen Bleirollen sicher Blasphemie", resümiert Katrin Lück und fügt augenzwinkernd hinzu: "Dass es jemals möglich sein würde, sie zu lesen, ohne sie zu öffnen, lag sicher jenseits ihres Vorstellungshorizontes!" Nachdem nun die technischen Voraussetzungen gegeben sind, sollen im Rahmen eines Forschungsprojektes alle übrigen, noch nicht durch Entrollen zerstörten mandäischen Bleirollen tomographiert und damit ihr Inhalt zerstörungsfrei der Wissenschaft zugänglich gemacht werden.