Nachhaltigkeit in der industriellen Produktion und Fertigung ist spätestens in der letzten Dekade in das allgemeine Bewusstsein aller Stakeholder getreten. Im Kontext von CO2-Reduktion und Energieeinsparung setzen mehr und mehr Unternehmen auf die Bereitstellung klimaneutraler Dienste und Produkte. Ressourcenschonung und Energieeffizienz sind bereits jetzt neben den preislichen und qualitativen Anforderungen wichtige Einkaufskriterien. Hintergrund sind steigende ökologische Anforderungen durch die Politik, die allgemeine öffentliche Wahrnehmung und nicht zuletzt die Kunden selbst. Die Einhaltung von gängigen Effizienzstandards und die damit einhergehenden Nachweispflichten sind mittlerweile in vielen Unternehmen in das Tagesgeschäft integriert.
Immer stärker zeigt sich in den Unternehmen die Notwendigkeit einer Integration von Nachhaltigkeit in eine dreigewichtige Gesamtzielstellung. Diese umfasst neben einer allgemeinen Effizienzsteigerung und Integration regenerativer Erzeugung die Faktoren Flexibilität und Autarkie. Flexibilität meint in diesem Zusammenhang eine Variabilität des energetischen Bezugs in Abhängigkeit von preislichen, produktionstechnischen und systemdienlichen Einflüssen. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang die in Abstimmung befindliche kurzfristige Zurufregelung der atypischen Netznutzung genannt. Sie soll es Unternehmen erlauben bei kurzfristigem Überangebot an erneuerbaren Energien im System, den Bezug erhöhen zu können, ohne dabei netzentgeltliche Zusatzkosten fürchten zu müssen.
Dies würde verstärkt die Integration erneuerbarer Energien fördern. Die Umsetzung des Mechanismus macht es jedoch erforderlich, dass die energetische Infrastruktur der Unternehmen inklusive ihrer Mess- und Steuerungstechnik diesen erhöhten Anforderungen genügt. Je nachdem wie tief die Flexibilisierung in die Kernprozesse des Unternehmens eingreifen, ergeben sich komplexere Energiemanagementaufgaben.
Das Thema Autarkie adressiert die energetische und preisliche Unabhängigkeit der Versorgung mittels verstärkter lokaler Erzeugungs- und Energiewandlungsanlagen. Gerade vor dem Hintergrund steigender Preise für Strom und Gas wird diese Ausrichtung für die Beibehaltung von Preisniveaus produzierender Unternehmen immer relevanter. Zielstellung ist hierbei die vollständige Entkopplung vom Energiemarkt. Kann diese nicht durch lokale Technologien und Maßnahmen gewährleistet werden, stellen auch sogenannte Power Purchase Agreements (engl. Stromlieferverträge, PPAs) mit Windpark oder Photovoltaikparkbetreibern Bausteine einer integrierten Lösung dar.
Net-zero-Konzept als Analyse
Genau zur Umsetzung solcher Konfigurationen unter Einbeziehung aller drei Aspekte entwickelt das Fraunhofer IFF in Magdeburg Lösungen nach dem Net-zero-Konzept. Mit diesem Konzept werden industrielle Standorte darauf untersucht, ob und wie es möglich ist, Energie und CO2 einzusparen und sie bilanziell und nachhaltig, flexibel und eventuell sogar autark mit Energie zu versorgen. In einer individuellen Standortanalyse werden Einsparpotenziale in Form von Entwicklungspfaden aufgezeigt und mit Hilfe ökologischer, technischer und wirtschaftlicher Indikatoren bewertet.
Vier Schritte zum Ziel
Ausgangspunkt stellt in jedem Fall eine umfangreiche Bestandsaufnahme des Ist-Standes dar. Indem die Frage analysiert wird, wo Unternehmen aktuell stehen und welche Technologien beziehungsweise Prozesse maßgeblich die Energieeffizienz und den CO2-Fußabdruck beeinflussen, kann aufbauend ein individuelles Technologiescreening erfolgen. Durch die Herstellerunabhängigkeit und die Technologieoffenheit des Fraunhofer-Instituts ist sichergestellt, dass spezifische Eigenschaften und ökologische Auswirkungen neutral analysiert werden. Die spezifische Eignung oder Nicht-Eignung von Technologien und Maßnahmen wird ausschließlich basierend auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen, Erfahrungen und Referenzen bewertet.
Entscheidendes Merkmal des Net-zero-Konzepts ist die technische, ökologische und wirtschaftliche Vergleichbarkeit. Durch mathematische Bildung von systemischen Kenngrößen wird erreicht, dass unterschiedliche Maßnahmengruppen priorisiert und gegeneinander abgewogen werden können. Unter Einbeziehung der unternehmensspezifischen Anforderungen kann beispielsweise die Elektrifizierung der Fahrzeugflotte gegenüber einer Photovoltaikanlage unterschiedliche Ausprägungen der ökologischen, technischen und wirtschaftlichen Einflüsse ausweisen. Aus diesem Grund ist die Erarbeitung einer konfliktfreien Wichtung der Kenngrößen aus Unternehmenssicht ebenfalls Bestandteil dieses Schritts.
Im dritten Schritt prüfen die Forschenden die Dimensionierung und Ressourcenoptimierung der Einzelanlagen beziehungsweise Systeme. Naheliegend ist zunächst der Einsatz regenerativer Erzeugung, zum Beispiel durch Photovoltaikanlagen. Diesbezüglich werden je nach den individuellen Gegebenheiten die Fragen geklärt, in welchem Umfang sich Photovoltaik einsetzen ließe, wie viel Energie erzeugt würde und wie das Erzeugungsprofil zum Lastprofil passt. Dabei darf auch das große Ganze nicht aus den Augen verloren werden. Verlässt man die lokalen Gegebenheiten, zeigen sich vermehrt Chancen durch Einbeziehung weiterer Partner auf. So können beispielsweise weitere Energieträger integriert und gemeinschaftlich verwertet werden. Auch die Erzeugung von grünem Wasserstoff bei Überschusssituationen liefert entsprechende Nachnutzungs- oder Vermarktungspotenziale.
Abschließend werden freiwerdende Potenziale infolge der voran gegangenen Schritte auf Optionen erweiterter Marktteilnahme untersucht. Die energetische Flexibilität von Anschlussnehmern wird im Zuge der Energiewende und des Ausbaus an erneuerbaren Energien zunehmend relevanter, was nach Einschätzung der Forscher perspektivisch zu einer Erweiterung des handelbaren Portfolios und zur Eröffnung zusätzlicher Märkte führen wird. Unternehmen sind entsprechend gut daran beraten sich bereits heute darauf einzustellen. Doch auch die Ausrichtung zu einer verstärkten Eigenversorgung mit reduzierter Notwendigkeit einer infrastrukturellen Anbindung kann als möglicher Ausbaupfad des Net-zero-Konzepts verfolgt werden.
Neue Geschäftsfelder
Die Verfolgung der drei übergeordneten Aspekte ist individuell auf die Bedürfnisse der jeweiligen Unternehmen zuzuschneiden. Auch innerhalb ein und desselben Unternehmens kann eine dynamische Wichtung je nach Zeithorizont, strategischer Ausrichtung oder adressiertem Markt- beziehungsweise Kundensegment zweckmäßig sein. In der Methodik wird abhängig von der Zielstellung und ihren Gewichtungen unter Ausweisung aussagekräftiger Indikatoren der Entscheidungsprozess transparent begleitet und in Form von Entwicklungspfaden priorisiert ausgewiesen.
Neben der Reduzierung des Energieverbrauchs und des CO2-Ausstoßes zeigen sich für die Unternehmen mitunter auch neue Geschäftsfelder auf, etwa im Bereich Energiedienstleistung und als Hersteller nachweislich „grüner“ Produkte. Und nicht zuletzt wird durch die erhöhte Flexibilität der energetischen Versorgung die Unabhängigkeit und Resilienz des Unternehmens gegenüber externen Einflüssen gestärkt.