Stromverteilnetze sind längst nicht mehr, was sie mal waren: „In vielen Regionen sind diese Netze zu vielen Zeiten eher Energiesammelnetze“, bringt es Dr. Joachim Schneider, Vorstandsmitglied RWE Deutschland, auf den Punkt. Das Energieunternehmen zählt mittlerweile rund 230.000 Anlagen zur dezentralen Stromerzeugung, darunter viele Photovoltaik-Anlagen, in seinem Einzugsgebiet. Allein in dem nicht gerade von der Sonne verwöhnten Verteilnetz Westfalen-Weser-Ems kamen 2011 etwa 12.000 hinzu.
Im Vergleich zu früher fließen die Elektronen nun öfter in umgekehrter Richtung. Probleme erzeugt das erst, wenn die Einspeisungen aus Erneuerbaren lokal zu hohe, nicht zum Bedarf passende Werte erreichen, die das Netz zu überlasten drohen. Die Tendenz dazu liegt aber in der Natur der Solaranlagen: Sie gehen im Tagesverlauf regional nahezu synchron auf volle Leistung, wenn sich die Sonne etwa in der Mittagsspitze zeigt. Ganz im Osten Deutschlands passiert dies nur etwa eine halbe Stunde früher als im äußersten Westen.
Schwierigkeiten machen den Netzbetreibern dabei weniger die Anlagen auf den Dächern der Stadtbewohner, da ihre Spitzenleistungen vergleichbar mit der Last der Haushalte sind, also keine Netzverstärkung erfordern. Anders auf dem Land, wo nach den Erfahrungen der RWE viele Landwirte oder Gewerbetreibende auf Scheunen und Anwesen Anlagen installieren, die das 20fache oder mehr der Spitzenlast ernten können.
So auch im Eifel-Landkreis Bitburg-Prüm, wo „wir extrem überspeist sind“, wie Schneider formuliert. Bezogen auf die Last steht dort heute die vierfache installierte Spitzenleistung an erneuerbaren Energien zur Verfügung, und eben nicht überall dort, wo passende Leitungen oder genügend Abnehmer zu finden sind - ein idealer Platz, um das Modellprojekt „Smart Country“ aufzusetzen, mit dem der Energieversorger Erfahrungen sammeln will.
Ein Pilotversuch für die Eifel
Seit 2011 erhebt die RWE dort an dedizierten Punkten Netzdaten, um durch bessere „Netzbeobachtbarkeit“ die Netzführung zu optimieren. Das allein genügt aber nicht. „Intelligente“ Lösungen zur Mittel- und Niederspannungsregelung sollen zusätzlich „die Auslastung der Betriebsmittel maximieren“. Was das bedeutet, zeigt ein von außen unscheinbarer Container unweit des klassischen Trafohäuschens von Bleialf. Auf der grünen Wiese, nur einen Steinwurf von der 20-kV-Leitung , die dem Dorf Tag und Nacht Strom garantiert, steckt in der etwa 12 Meter langen Box ein schnellsteuernder Mittelspannungsregler. Seine Aufgabe: Egal ob im nahegelegenen Dorf mittags gerade die Sonne die Solaranlage auf Hochtouren laufen lässt, der Wind zu nachtschlafender Zeit den Windmüllern einträgliche Umsätze beschert oder an trüben Tagen trotz Flaute hohe Stromnachfrage herrscht - die Spannung muss in einem schmalen Band von wenigen Prozent um den Sollwert bleiben. Und das hier in der Eifel, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, rund 15 km vom Ursprung der Mittelspannungsleitung in Prüm entfernt.
Die Mittelspannungsreglerstation von Bleialf ist die einzige in Deutschland mit dieser Technik; nach dem gleichen Prinzip arbeitet einige Kilometer entfernt ein Niederspannungsregler, kaum größer als ein gewöhnlicher Trafo. Die Technik hat sich bereits in der Halbleiter- und Chemie-Industrie bewährt, musste aber auf die Anforderungen des Energieversorgers angepasst werden. Denn während sie sonst im Inneren von Fabriken Kristalle für Halbleiterchips während ihrer empfindlichen Wachstumsphase vor Schwankungen der Umgebungsbedingungen schützt, muss sie hier Wind und Wetter trotzen.
Jacken mit Lichtbogenschutz zur Besichtigung
Zur Besichtigung des Prototyps müssen wir in Jacken mit Lichtbogenschutz schlüpfen - Dienstvorschrift, wie RWE-Sprecher Rolf Lorig betont, keine besondere Vorsichtsmaßnahme. Im Inneren des Containers für die Mittelspannungsregelung dienen viele Kubikmeter nur dazu, die Elektronik auf die richtige Temperatur zu heizen oder kühlen, und das möglichst geräuschlos, so dass außer zur Lüftung viel Bauraum für die Schalldämmung geopfert wurde.
Das Herz der Regelungstechnik schwingt hier unhörbar im 20-Millisekunden-Takt. Die hochgezüchtete Elektronik könnte sogar noch schneller arbeiten, was aber unnötig erscheint. Denn im 50-Hertz-Rhythmus schaffen es die Leistungshalbleiter, eine zuvor im Tagesverlauf um sechs Prozent schwankende Eingangsspannung bis auf Abweichungen im Promillebereich um den 230-V-Sollwert zu glätten. Wieder draußen wird beim Blick auf die 15-km-Leitung klar, dass eine Leitungsverstärkung als Alternative zur High-Tech-Regelung bei Kosten von 140.000 Euro pro Kilometer nicht gerade attraktiv erscheint. Und der Container steht innerhalb seiner Umzäunung einfach auf drei befestigten Fundament-Streifen: „Er ließe sich bei Bedarf genauso an anderer Stelle einsetzen, falls er hier nicht mehr benötigt werden sollte“, sagt Lorig. Wer will dagegen eine Netzverstärkung verpflanzen?
Ein Riesling mit mehr „Intelligenz“
Besonders betroffen ist im bayerischen Ries ebenfalls eine Verteilregion, in der die installierte Leistung an erneuerbaren Energien bereits seit 2010 höher als der Strombezug in der Region ist. „Früher war die Niederspannung nicht überwacht, es genügte eine zweijährliche Schleppzeigerablesung der Ströme in den Stationen. Das Netz wurde quasi blind gefahren“, erinnert sich Manfred Baumhakl, Leiter Strom Betriebsführung der EnBW Ostwürttemberg Donau Ries (ODR), an Zeiten, als die Verhältnisse noch vorhersehbar waren. 2011 verzeichnete der Verteilnetzbetreiber aber bereits 50 Tage, an denen er ins 110-kV-Netz rückspeisen musste, am meisten vor einem Jahr am Ostermontag: 113 MW bei einer maximalen Last von rund 420 MW. Für 2015 rechnet die EnBW ODR bereits damit, an 150 Tagen im Jahr zurückzuspeisen.
Seit Januar 2012 rüstet der Verteilnetzbetreiber nun in einer ersten Phase Umspannstationen mit Messgeräten nach. Messwerte allein sind - noch ohne Aktorik - schon hilfreich für die Planung der Netze und die Netzführung. In einer zweiten Phase folgen Schaltanlagen mit Fernwirktechnik. Auf diese Weise kann eine Prognose - abhängig von postleitzahlbezogenen Wetterdaten - in das Netzleitsystem eingespeist werden. Das Leitsystem soll dann Handlungsoptionen vorgeben, wenn auch noch nicht automatisch schalten. Jedenfalls eine besondere Aufgabe für die Datenkommunikation, wie Andreas Bentz, Executive Consultant Smart Grids der T-Systems International, erläutert: Zwischen Ortsnetzstationen, Trafostationen und Photovoltaikanlagen ist eine heterogene, flexible Kommunikation zu realisieren, gekennzeichnet dadurch, dass es viele aktive Netzknoten gibt.
Sinnvoll ist es, auf dem Weg in die Netzleitstelle die Daten schon früh zu aggregieren, indem zum Beispiel Schwellwerte beobachtet und nur dann Daten übertragen werden, wenn die aktuellen Werte in eine gefährliche Nähe gelangen. Ein mehrschichtiges Sicherheitskonzept mit Zertifikaten und Verschlüsselung soll die Datensicherheit garantieren, könnte doch die Manipulation der Eingangsdaten kritische Infrastruktur in Gefahr bringen. Denn die Daten laufen in Echtzeit in Scada-Systeme - manipulierte Werte würden hier zu katastrophalen Schaltanweisungen führen.
In der dritten Phase des EnBW-Pilotprojektes „Riesling“ (Region Ries: Leittechnik intelligent gemacht) wird eine neue Ortsnetzstation zusätzlich mit einem regelbaren Ortsnetzumspanner installiert.
Herausforderungen für die Energietechnik
�?hnlich wie in der Eifel stammen die energietechnischen Komponenten im Nördlinger Ries von ABB. Bereits vier Ortsnetzstationen wurden inzwischen mit Mess- und Überwachungstechnik ausgestattet - nicht immer ein triviales Unterfangen, weil Platzprobleme oft die Nachrüstung erschweren. Die Niederspannungswerte lassen sich noch relativ leicht messen, weil die dazu nötigen Wandler nicht sehr groß sind. Wo Mittelspannungswandler aber nicht unterzubringen sind, muss im Notfall eine Zustandsschätzung als Ersatz dienen. „Diese �??State Estimation‘ ist eine aus dem Übertragungsnetz erprobtes Vorgehen“, sagt Prof. Dr. Jochen Kreusel, der in Zürich das weltweite Smart-Grid-Programm von ABB leitet.
Angesichts einer halben Million Ortsnetzstationen in Deutschland sieht er eine der großen Herausforderungen darin, die Nachrüstung wirtschaftlich umzusetzen. Insbesondere beim neuen Spannungsregler, bei dem Pilotversuche und die Anpassung an die Bedürfnisse der Energieversorger noch im Vordergrund stehen, „ist der Zielpreis noch nicht erreicht“, drückt EnBW-Mann Baumhakl es diplomatisch aus.
Vielleicht erweist sich auch, dass man nicht unbedingt immer auf kontinuierliche Spannungsregelung setzen muss, sondern von Fall zu Fall auch die preisgünstigere gestufte Variante einsetzen kann, wie sie in anderen Projekten im Markt getestet wird. „Es wird wohl beides geben“, vermutet Prof. Kreusel, nicht eine Lösung, die überall passt. „Der Baukasten an Lösungen wächst jedenfalls“, freut er sich mit Blick auf eine Anwendung in Norwegen, wo ABB eine weitere Lösung testet, die speziell für die Spannungsregelung an sehr langen Leitungen mit geringer Last geeignet sein könnte.
Netzausbau verschieben, wenn nicht ersetzen
Aber egal ob in der Region Bitburg-Prüm oder im Ries: Dank höherer Netzautomatisierung wird sich das Verteilnetz besser auslasten lassen, so dass es auch ohne Leitungsneubauten mehr dezentrale Erzeugung verdaut. Ersetzen kann es den Netzausbau allerdings nicht. „Etwa die Hälfte des Investitionsvolumens lässt sich so einsparen oder nach hinten verschieben“, schätzt EnBW-Experte Baumhakl. Das ist bei Milliardeninvestitionen schon mal ein Wort.
Mehr zur Smart-Grid-Technik von Siemens lesen Sie in unserer übernächsten Ausgabe 5.2012.