Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Nachdem eine Baugruppe bereits in Serie gefertigt wird, verschiebt der Hersteller eines Bauteils seine Terminzusage für ein Lieferlos um einen Monat. Da dies einen vorübergehenden Fertigungsstopp mit den entsprechenden Verzögerungen bei der Baugruppenlieferung und beim Endkunden bedeuten würde, versucht der Materialeinkauf, das Bauteil anderweitig zu beschaffen, jedoch ohne Erfolg. Ein Beschaffungs-Dienstleister bietet jedoch ein äquivalentes Ersatzbauteil an. Ein Blick in die Stückliste - ein hausinternes Verzeichnis, in dem sämtliche einzelnen Bauteile einer Baugruppe verzeichnet sind - zeigt, dass dieses Teil dort nicht freigegeben ist. Es kann somit nicht verwendet werden, obwohl es hervorragend geeignet wäre und auch der Preis stimmt. Für eine Freigabe dieses Bauteils müsste der Bestücker eine neue, geänderte Stückliste vom Besteller der Baugruppe erhalten; dieser wiederum hätte nach Überprüfung zunächst die Stammdaten für die Bauteilposition sowie die Stückliste zu ändern, zusätzlich müssten noch betriebsinterne Freigaben durchlaufen werden. Und die für die Freigabe zuständige Entwicklungsabteilung arbeitet längst an anderen Projekten und kann nicht sofort reagieren. Also wird es in jedem Fall zu großen Verzögerungen, Kosten und Reputationsverlust beim Endkunden kommen. Dies hätte vermieden werden können, wenn die Stückliste von Beginn an sorgfältig und umfassend erstellt worden wäre. Sie dient als „Reisepass“, der in der Entwicklungsabteilung eines Baugruppenherstellers ausgestellt wird und in den danach folgenden Entstehungsabschnitten bis zu einer serienreifen Baugruppe führt. Wem die Schilderung oben bekannt vorkommt, der sollte sich unbedingt vergewissern, dass seine Entwicklungsabteilung hier ganze Arbeit leistet, denn dort werden die Weichen für eine reibungslose Produktion gestellt. Die Entwicklung einer Baugruppe ist bei Vorliegen eines funktionierenden Labormusters eben noch nicht beendet, vielmehr ist es bis zur Serienreife noch ein weiter Weg.
Keine proprietäre Lösung
Für die Anlage einer Stückliste ist die Verwendung einer allgemein gebräuchlichen Tabellenkalkulation zu empfehlen. Sie besitzt entsprechende hausinterne Gestaltungsmöglichkeiten und ist von jedermann sofort bedienbar. Proprietäre Lösungen sind zumeist nur schlecht anpassbar und für den Datenaustausch zwischen den verschiedenen Teilnehmern der Produktrealisierung weniger geeignet. Die Daten der Tabellenkalkulation lassen sich hingegen meist relativ einfach in bestehende Strukturen importieren. Die erforderlichen Angaben für eine optimierte Stückliste sind aus Abbildung 1 ersichtlich. Hier ist der Aufbau anhand zweier Halbleiterbauteile dargestellt.
Positionsbezeichnung des Bauteils wie im Schaltplan angegeben Beschreibung der Bauform Hier kann der Bauteilcode für ein Prüfsystem angegeben werden, z. B. Fabmaster Hier kann eine firmeninterne EDV-Bezeichnung für dieses Bauteil angegeben werden Kurzbeschreibung der Bauteilfunktion Angabe, ob das Bauteil für Wellenlötung geeignet ist. Dies ist wichtig, wenn für die Baugruppe Wellenlötung in Betracht kommt. Freigegebene Typenbezeichnungen Zugehörige Hersteller Durchschnitts-Stückpreis bei Abnahme von 1.000 StückBei passiven Bauteilen verfährt man sinngemäß genauso.
Reibungslos zur Fertigung
Die entsprechenden Eintragungen nimmt das Entwicklerteam vor, sie gewährleisten einen reibungslosen Übergang bis in die Phase der Serienfertigung.Die Marketing- bzw. Verkaufsabteilung des Baugruppenherstellers nutzt die Preisangaben der Stückliste bei der Vorkalkulation der Gesamtkosten. Der Layout-Dienstleister kann mit den Informationen zu Positionsbezeichnung, Bauform und der Wellenlötbarkeit sein Layout beginnen. Sollte er genauere Hinweise zu den Bauteilgehäusen oder der Ausführung von Anschlussflächen und Bohrungen benötigen, so kann er diese über die Typenbezeichnung auf der jeweiligen Hersteller-Homepage erhalten. Ist er auch für die Erstellung von Platzierungsfiles für einen geplanten In-Circuit-Test zuständig, so benutzt er neben den Gehäuseinformationen die in der Spalte 3 angegebenen Codes. Die Einkaufsabteilung des Fertigungs-Dienstleisters arbeitet mit den Angaben zu Typenbezeichnungen und Herstellern, um den Materialpreis für die Bestückung zu ermitteln. Der Fertigungs-Dienstleister wird im Regelfall die Stücklistendaten in seine spezielle Materialverwaltung einpflegen. Besonders die in den Spalten 7 und 8 enthaltenen Informationen sind für die spätere Serienfertigung von großer Bedeutung, da dort sämtliche freigegebenen Bauteilvarianten erscheinen.
Regel für die Beschaffung
Liegt ein Bauteilengpass vor, sind die Mehrkosten für die vorübergehende Beschaffung über einen Beschaffungs-Dienstleister und/oder die Verwendung einer teureren Ausführung zumeist erheblich geringer als die Auswirkungen eines Produktionsstillstands. Um keine Fehler bei der Angabe der freigegebenen Typen zu machen, ist eine eingehende Beschäftigung mit dem Typenschlüssel des jeweiligen Herstellers unerlässlich. Bei der Definition sollten einige Regeln beachtet werden:
Angegebene Typenbezeichnungen müssen fehlerlos und komplett sein (unvollständige Typen = falsche Typen)! Es sollten alle verwendbaren Ausführungen eines Bauteils definiert werden. Bei vielen Herstellern sind verschiedene Verpackungsoptionen lieferbar und daher Bestandteil der Type (z. B. Lieferung in Stangenform oder auf Rolle). Viele Bauteile sind in verschiedenen Genauigkeitsklassen lieferbar (z.B. 5 Prozent - 2 Prozent - 1 Prozent oder 20 mV -10 mV - 5 mV). Normalerweise sind höhere Genauigkeiten als nötig verwendbar, sie können jedoch zur Kostensteigerung führen. Manche Bauteile sind bei gleichen Abmessungen mit höheren Nennspannungen erhältlich (z. B. bei Kondensatoren 50 statt 35 V oder bei Dioden). Dies stellt im Normalfall kein Problem dar, sondern kann sogar die Ausfallsicherheit der Schaltung erhöhen. Eine weitere Möglichkeit stellt die Freigabe von „schnelleren“ Bauteilen als normalerweise erforderlich wären, dar. Dies trifft für Digital-Schaltkreise wie Prozessoren oder Speicher zu (z. B. Zykluszeiten 50 - 20 - 5 µS). Besonders wichtig sind Freigaben für Alternativbauteile anderer Hersteller („Second Source“). Sollte ein Hersteller als Lieferant komplett ausfallen (Lieferverzögerung, Abkündigung!), so kann man unverzüglich auf ein Ersatzbauteil übergehen. Entwicklergrundsatz: Man sollte immer Bauteile verwenden, zu denen Alternativen anderer Hersteller bestehen. Möglicherweise sind für die Freigabe alternativer Teile noch mehr oder weniger umfangreiche Voruntersuchungen nötig, hier muss zwischen Aufwand und Nutzen abgewogen werden.Auch wenn die gesamten Arbeiten einschließlich der Serienfertigung im Hause des Baugruppenherstellers erfolgen, so lassen sich die beschriebenen Grundsätze bei gleichem Nutzen entsprechend anwenden.
Lohnender Aufwand
Sicherlich ist das genaue Arbeiten bei der Definition der Bauteiltypen und das Auffinden von Alternativteilen mit Zeitaufwand sowie guten Kenntnissen des Bauteilmarktes verbunden (die man nur durch Erfahrung gewinnt), der Mehraufwand zahlt sich jedoch über die Produktlebensdauer immer aus. Um die Vorteile einer guten Stückliste entlang des Produktzyklus sicherzustellen, ist diese auf einem aktuellen Stand zu halten, denn bei jedem Bauteil ist mit kurzfristigen �?nderungen des Typenschlüssels sowie Abkündigungen oder Updates zu rechnen. Die Stückliste muss also regelmäßig (z. B. jährlich) gepflegt werden. Da dies nicht immer ohne Weiteres möglich ist (Entwicklungsteam arbeitet an anderen Projekten oder ist nicht mehr greifbar) sollte auch die Inanspruchnahme eines Dienstleisters, welcher über entsprechende Erfahrung verfügt, erwogen werden. Dies gilt ebenso für Hilfestellung bei der ersten Ausarbeitung der Stückliste.